1307 - Die toten Frauen von Berlin
Sessel hoch.
Ich konnte nicht so schnell ausweichen. Sie rammte mich hart. Ich hatte Glück, dass ich nicht zu Boden fiel.
Eve aber lief weiter, gab nicht Acht und prallte gegen die Wand dicht neben der Tür. Dort brach sie auch zusammen und blieb schluchzend hocken. Sie hatte sich sehr klein gemacht. Ihre Haltung erinnerte an die eines Kindes im Mutterleib.
Harry hielt den Weg zur Tür versperrt. »Verstehst du das?«, flüsterte er mir zu.
»Nein, nicht wirklich. Die Erinnerung muss sie überwältigt haben. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.«
»Dann ist es verdammt hart gewesen.«
»Das kannst du laut sagen.«
Ich blieb neben Eve stehen und schaute auf sie nieder. Sie wagte nicht, den Kopf anzuheben. Sie bewegte sich überhaupt nicht, sondern starrte ins Leere.
Ich versuchte es noch mal mit einer Ansprache. Eve Sandhurst reagierte nicht. Sie blieb stumm. Nur hin und wieder hörten wir ein leises Schluchzen.
»Wir müssen ihr Zeit geben, John. Die Eindrücke sind noch zu frisch. Wer weiß, wem sie in die Hände gefallen ist. Und ihr ist die Flucht gelungen, das darfst du auch nicht vergessen.«
»Keine Sorge, so etwas vergesse ich nicht. Aber hast du verstanden, was sie gesagt hat?«
Harry Stahl nickte sehr bedächtig. »Ja, sie sprach von totem Fleisch. Von nackten Frauenkörpern, und wenn wir das für bare Münze nehmen, müssen wir davon ausgehen, dass sie zusammen mit den anderen fünf gewesen ist.«
»Mit fünf toten Frauen.«
»Womit sonst? Aber sie hat es geschafft. Die anderen Frauen sind umgebracht worden. Eiskalt, sonst hätte Eve das nicht sagen können. Aber wer hat sie getötet?«
Ich deutete auf Eve. »Sie wird es wissen. Fragt sich nur, ob sie es uns auch sagt.«
»Sie muss sich erst fassen. Das wäre unter ärztlicher Aufsicht sicherlich besser.«
»Ja, nur dauert das seine Zeit. Noch haben wir die Chance, Aussagen zu bekommen.«
»Ich richte mich nach dir.«
Ob die Frau unser Gespräch mitbekommen hatte, war für uns nicht zu erkennen. Sie hatte ihre Haltung kaum verändert, doch jetzt, nachdem wir auch nicht mehr sprachen, bewegte sich Eve. Sie ließ die Arme sinken, das Gesicht lag wieder frei und sie schaute uns an.
Ich versuchte es mit einem Lächeln. Das Eis zwischen uns musste einfach aufgeweicht werden.
Sie lächelte nicht zurück, aber ihr Blick war klarer geworden. Das Misstrauen darin war nicht verschwunden.
»Wäre es nicht besser, wenn Sie sich wieder setzen würden, Eve?«
»Warum sollte ich das?«
»Wir könnten uns besser unterhalten. Außerdem bin ich froh, dass wir Sie gefunden haben.«
»Sie… Sie … haben mich gesucht?« Ihre Arme sanken nach unten und streckten sich wieder. Allmählich hatte sie ihre Starre überwunden. Jetzt musste nur noch das Vertrauen zurückkehren.
»Ja, wir haben Sie gesucht. Ich heiße John Sinclair. Arbeite für Scotland Yard. Ihr Verschwinden hat Aufsehen erregt. Da ich gerade in Deutschland zu tun hatte, bin ich nach Berlin gekommen, um mich mit meinem deutschen Kollegen Harry Stahl auf die Suche zu machen, denn nicht nur Sie allein sind verschwunden.« Ich wollte nicht weiter auf dieses sensible Thema eingehen und beließ es dabei.
Eve Sandhurst stellte auch keine Fragen. Aber sie holte tief Luft und fragte nach einem weiteren Glas Wasser. »Und einen Whisky habe ich auch im Haus.«
»Wo?«
»Unter der kleinen Spüle.«
»Den finde ich«, versprach Harry.
Er verschwand wieder. Ich streckte Eve meinen rechten Arm entgegen. Sie blickte auf meine ausgestreckte Hand, zögerte noch einen Moment, dann griff sie zu und ließ sich von mir hochziehen.
Dabei schloss sie die Augen. Erst als sie stand, schaute sie wieder normal.
Ich hielt sie sicherheitshalber fest. Ihr Mantel strömte einen bestimmten Geruch aus. Ich schnupperte und überlegte zugleich, was er bedeuten könnte.
So roch altes Wasser. Aber auch feuchtes Mauerwerk. Schmutzige Lumpen. Das alles kam hier zusammen, und wenn ich recht überlegte, dann musste sich die junge Frau in einer bestimmten Umgebung aufgehalten haben. In einem alten Keller, in einer Ruine am Wasser. Oder in einem Raum, in dem es auch Pfützen gab.
»Kommen Sie.«
Eve nickte. Sie ließ es zu, dass ich sie wieder zu ihrem Sessel führte. Mit kleinen Schritten ging sie und schaute dabei zu Boden.
Ich hielt sie fest. Eve zitterte noch immer, aber sie war nicht mehr so fertig wie vorhin.
Am Sessel wartete Harry Stahl bereits mit Wasser und Whisky.
Zwei Gläser standen auf dem kleinen
Weitere Kostenlose Bücher