1308 - Tödliche Schwingen
Scheinwerfer gaben kein Licht mehr ab. Bei mir herrschten die gleichen Bedingungen wie bei dem Unbekannten vor mir.
Was würde er unternehmen? Angreifen? Ich rechnete mit allem, doch er traf keinerlei Anstalten, mich stoppen zu wollen. Sehr vorsichtig ging ich. Meine Blicke waren überall. Ich schaute nach vorn, drehte mal den Kopf und suchte auch kurz den Himmel ab.
Ein plötzlicher schriller Schrei!
Er hörte sich nicht sehr menschlich an. Aber er hinterließ auf meinem Rücken einen Schauer. Ein Tier hätte so schreien können.
Plötzlich huschte etwas weg. Es war überall dunkel, aber dieses Wesen huschte auf eine andere dunkle Stelle zu, die von den Sträuchern eines Vorgartens gebildet wurde. Dabei wurde er wirklich zu einem Schatten. Nur nicht zu einem, wie ich ihn gesehen hatte. Er tauchte einfach nicht mehr auf und versteckte sich in der Dunkelheit. Das heißt, ich entdeckte ihn noch einmal. Allerdings nur sehr kurz. Da schwebte er tatsächlich über dem Boden und war Sekunden später überhaupt nicht mehr zu sehen.
Die Verfolgung gab ich auf. Es hatte keinen Sinn mehr. Der Unbekannte war mir voraus, und so blieb ich stehen, den Blick gegen den Himmel gerichtet und dachte darüber nach, dass sich Carlotta nicht geirrt oder sich irgendetwas eingebildet hatte.
Es gab die Bedrohung. Sie existierte zwar nicht in unmittelbarer Nähe des Vogelmädchens, aber sie war schon vorhanden. Denn diese schattenhafte Gestalt war nicht irgendein Dieb, der durch die Nacht schlich und nach Beute suchte. Er hatte etwas ganz Bestimmtes vor und verfolgte einen Plan.
Möglicherweise auch den zweiten Teil davon. Den ersten hatte er durch die Entführung der Tierärztin erfüllt. Den zweiten würde er sich noch erfüllen müssen.
Wieder durch eine Entführung?
Ich hatte Carlotta zwar angerufen und sie beruhigt. Das lag allerdings schon etwas zurück, und so versuchte ich es mit einem erneuten Anruf. Ich hatte mich auf den Gehsteig gestellt und sprach leise in mein Handy, als sich das Vogelmädchen meldete.
»Erschrick bitte nicht, ich bin es nur.«
Carlotta atmete scharf aus. »John, wo bist du denn? Ich habe dich erwartet.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin ganz in deiner Nähe.«
»Dann komm bitte.«
»Das werde ich auch.«
Carlotta war nicht dumm. Sie wusste genau, dass ich nicht grundlos anrief, und sie fragte mich auch danach.
»Ich will es dir sagen. Ich habe dieses Wesen oder diesen Schatten gesehen…«
»Nein, das ist…«
Ich ließ sie nicht ausreden. »Bitte, er ist verschwunden. Ich habe ihn nicht genau gesehen. Hast du denn erkennen können, wer es gewesen ist?«
»Auch nicht. Aber darüber reden wir in einigen Minuten, denn dann bin ich bei dir.«
»Gut ich warte.«
Mit wenigen Schritten hatte ich den Wagen erreicht und startete.
Ich befand mich allein auf der Straße. Die Scheinwerfer des Fords rissen ein Loch in die Dunkelheit. Ich wusste, dass Carlotta mit klopfendem Herzen auf mich wartete, fuhr sehr schnell und bremste vor dem Haus ab, das jenseits des Vorgartens lag. Ich sah einige helle Stellen in der Hauswand, erleuchtete Fenster im Erdgeschoss und bemerkte beim Ausstiegen, dass mich Carlotta ebenfalls gesehen hatte, denn sie öffnete die Tür und rannte mir entgegen, um in meinen ausgebreiteten Armen zu landen…
***
Das Vogelmädchen war glücklich. Zumindest für den Augenblick.
Carlotta umschlang mich mit beiden Armen. Sie drückte sich an mich. Ich hörte das heftige Schlagen ihres Herzens, ich spürte den Druck der Arme und auch ihre Kraft, die über die eines normalen Kindes in ihrem Alter hinausging.
Sie musste auch reden. Immer wieder bekam ich bestätigt, wie froh sie war, mich zu haben und dass sie jetzt nicht mehr allein war.
Dass ein Hund das Haus ebenfalls verlassen hatte, bemerkte ich daran, dass er mit seinen Pfoten an meinem rechten Bein kratzte und auch seinen Körper dagegen rieb.
Auch als Carlotta ihre Umarmung gelöst hatte, wollte sie mich nicht loslassen. Sie umfasste meinen Arm. Dabei schaute sie sich hektisch um, sah jedoch keine Gefahr und zog mich auf das Haus zu.
»Komm erst mal rein, John, dann können wir sprechen. Es ist alles so grausam. Ich würde ja gern an einen Traum glauben, aber das ist keiner. Ehrlich nicht. Alles, was ich gesehen habe, das stimmt. Ich habe dir nichts erzählt. Maxine ist wirklich…«
»Ich weiß Bescheid. Aber das können wir doch im Haus besprechen oder nicht?«
»Klar, John. Ich bin nur so aufgeregt. Aber ich habe nicht
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