1308 - Tödliche Schwingen
geschnittene Nase erinnerte Carlotta tatsächlich an den Schnabel eines Raubvogels.
Sie sah die Augen ohne Pupillen, die in den Höhlen leuchteten.
Es war kein Strahlen. Mehr ein dunkler Glanz, als hätte man den Inhalt der Augen geschliffen.
Carlotta hatte ihren ersten Schock überstanden. Mit scharfer Stimme flüsterte sie. »Sag was, verdammt! Sag endlich, wer du bist. Ich will es wissen.«
Die untere Gesichtshälfte zog sich noch mehr in die Breite.
Carlotta rechnete mit einer Antwort, die sie auch erhielt und die sie fast in einen Schockzustand versetzte.
Es war keine Stimme.
Es waren Laute, kehlige Schreie, mit denen sich Vögel verständigten. Jeder Schrei erreichte ihre Ohren wie eine Botschaft.
So benahmen sich keine Menschen. Nur Tiere. Davon eine besondere Spezies.
Vögel – Raubvögel!
Dieser Gedanke wischte im Zickzack durch ihren Kopf. Sie war sich jetzt nicht sicher, ob sie einen normalen Menschen vor sich hatte oder etwas, das zwischen Mensch und Vogel lag. Ähnlich wie bei ihr.
Plötzlich klopfte ihr Herz wahnsinnig schnell. Wie auch die Lungen war es größer als bei einem normalen Menschen. Carlotta überkam das Gefühl, wegzutreiben, obwohl sie nach wie vor noch auf dem Rücken lag und sich nicht bewegte.
Der Fremde blieb auch weiterhin dicht vor ihr, doch er tat etwas, was sie nicht begriff. Er stand zwar auf der Stelle, doch gleichzeitig begann er zu tanzen.
Nicht nur die Beine, seine Arme fielen ebenfalls in einem gewissen Rhythmus. Carlotta brauchte nicht lange, um zu erkennen, was diese Bewegungen andeuteten.
Fliegen!
Ja, der nackte Mann vor ihr wollte ihr klar machen, dass er flog.
Er lachte dabei, und doch waren es mehr die Schreie eines Vogels, die sie erreichten.
Carlotta wusste zwar nicht genau, was dies zu bedeuten hatte, doch nach einigem Nachdenken gelangte sie zu dem Schluss, dass dies so etwas wie ein Vorspiel war. Ein Zeichen für das, was noch folgen würde. Sie hatte sich nicht geirrt.
Urplötzlich warf sich die Gestalt zu Boden. Sie fiel auf den Bauch.
Sie rollte sich herum, und sie schlug dabei mit den Armen um sich.
Das Gleiche geschah mit den Beinen, aber es waren keine sinnlosen Bewegungen, das stellte Carlotta sehr bald fest. Sie bedeuteten etwas, und plötzlich war diese Person kein Mensch mehr. Der nackte Mann hatte es tatsächlich geschafft, sich zu verwandeln. Er lag noch auf dem Boden. Die Arme hielt er gespreizt. Carlotta brauchte kein zweites Mal hinzuschauen, um zu erkennen, dass es keine Arme mehr waren. Sie hatten sich verwandelt. Sie waren zu breiten Schwingen geworden, bedeckt mit einem leicht schillernden Federkleid.
Die Gestalt schlug mit den Schwingen auf und nieder. Sie fuhren über den Boden hinweg. Der Luftzug ging auch an Carlotta nicht vorbei. Sie war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Diese Verwandlung hatte sie sprachlos gemacht. Sie kam sich so klein und hilflos vor, denn der Vogel war riesig. Er ließ sich auch nicht durch das nahe Buschwerk stören. Seine Schwingen drückten die Zweige zur Seite, sodass er sich selbst genügend Platz schaffte.
Plötzlich schwebte er über ihr. Er flatterte wild mit den Schwingen und nahm dabei das gesamte Blickfeld des Vogelmädchens ein. Sie sah den scharfen Schnabel, der leicht geöffnet war. Sie schaute in die kalten Augen hinein, in denen es kein Gefühl gab.
Groß und dunkel. Wobei im Hintergrund ein gelbliches oder weißliches Licht leuchtete.
Carlotta hatte ihn noch fragen wollen, wer er war. Das konnte sie nun vergessen, denn ein Adler würde sich nicht mit ihr unterhalten können.
Noch flatterte er über ihr. Schon jetzt merkte sie, welch eine Kraft in diesem Tier steckte. Wenn es sie angriff, würde sie nicht die Spur einer Chance bekommen.
Es gab keine Arme mehr. Es gab nur die Krallen. Gekrümmt und sehr spitz. Mit ihnen würden sie ebenso die Fleischstücke aus den Körpern der Beute reißen wie mit dem spitzen Schnabel. Adler waren die Bosse unter den mächtigen Vögeln. Für sie gab es keine Feinde, sondern einzig und allein die Beute.
Wie lange Carlotta auf dem Boden gelegen hatte, konnte sie selbst nicht sagen. Sie war so hilflos, und das Zeitgefühl gab es bei ihr nicht mehr. Sie hatte die Hände schützend vor ihrem Gesicht gekreuzt. Auch das würde nicht viel helfen, wenn der Vogel sie angriff. Aber sie hatte einfach etwas tun müssen.
Luft streifte über ihr Gesicht hinweg. Sie hörte das heftige Flattern der Schwingen, und es kam ihr vor wie eine
Weitere Kostenlose Bücher