1313 - Der falsche Engel
er auch nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sich der Guru in seinen Zustand hineinversetzt hatte. Aber er konnte nicht stundenlang so hocken.
Irgendwann musste etwas passieren.
Auch Bill Conolly wartete darauf. Es war wirklich warm um ihn herum. Das Glas der Lampen strahlte die Wärme ab. Auch der Reporter spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Er wischte ihn nicht ab. Er wollte durch eine Bewegung nicht stören.
Dann passierte es.
Der Guru gab ein Zeichen. Er bewegte sich nicht, aber jeder hörte sein schweres Seufzen. Es klang so beschwerlich und bedrückt, dass man schon Mitleid mit ihm bekommen konnte. Den Kopf hatte er nicht angehoben, er schaute nach wie vor gegen seine Pyramide, aber es würde etwas passieren, das spürten alle.
Dann – endlich – bewegte er sich.
Er kam hoch.
Sehr langsam, damit sich jeder Teilnehmer wieder auf sein Gesicht konzentrieren konnte. Selbst im Licht der Kerzen sah es blass aus. Da musste alles Blut aus ihm gewichen sein.
Mit bewegungslosen Augen blickte er über den Tisch hinweg, und natürlich erwischte sein Blick Bill Conolly.
Der hielt ihm stand.
Aber er spürte sofort, dass etwas passiert sein musste, obgleich nichts zu sehen war. Es war eben der Blick, der sich in seine Augen bohrte. Über den Tisch hinweg schien sich ein unsichtbares Band gespannt zu haben.
Was wusste der Brasilianer?
Bill glaubte sogar, dass er ihn er- und durchforschen wollte. Die Augen waren einzig und allein auf ihn gerichtet. Da gab es nichts anderes mehr, das er sah.
Es war nicht der böse Blick einer Hexe, doch es war zu sehen, dass Lucio Bill irgendwie misstraute und ihn in der Runde als einen Fremdkörper ansah.
Die Hände des Mediums berührten weiterhin das Metall der Pyramide. Sie stellte so etwas wie eine Verbindung zwischen zwei verschiedenen Zonen dar. Jeder wartete darauf, dass Lucio etwas sagte. Jeder war mit bestimmten Hoffnungen gekommen, um durch Lucio Kontakt mit einem Verstorbenen zu bekommen.
Noch hatte sich keine Hoffnung erfüllt. Eine Frau hielt die Spannung nicht länger aus. Sie saß an der Mitte des Tisches und fragte flüsternd: »Hast du etwas gesehen? Ist dir was gezeigt worden?«
»Pst!«, zischte Griffin.
Die Fragerin verstummte.
Lucio ergriff die Initiative. Er richtete sich auf seinem Stuhl so weit auf, dass er gerade saß. Die Pyramide hatte er nicht losgelassen. Selbst seine Finger wirkten silbrig und dünn.
Dann schüttelte er den Kopf. Dabei rutschten die ersten Worte über seine Lippen. »Es ist schwer«, flüsterte er, »so verdammt schwer heute. Etwas stört mich…«
»Siehst du denn was?«, fragte Griffin, der Hausherr, der sich verantwortlich fühlte.
»Ja, ich habe etwas gesehen.«
»Und?«
Lucio schüttelte den Kopf. »Was ich sah, war nicht gut. Ich muss erst darüber nachdenken. Ich habe auch nicht gedacht, dass ich es zu Gesicht bekommen würde. Ich werde es euch sagen, aber danach muss ich eine Pause einlegen.«
Griffin wollte den anderen Teilnehmern Hoffnung machen und fragte deshalb: »Ist es denn der gewünschte Kontakt mit dem Jenseits gewesen?«
»Nein, noch nicht…«
Keiner am Tisch gab einen Kommentar und zeigte somit an, dass er enttäuscht war. Aber dieses Gefühl gab es. Man konnte es spüren, und es gab bei den Menschen auch so etwas wie eine gewisse Entspannung. Manche waren vielleicht froh, dass es nicht sofort geklappt hatte.
Nur konnte es das auch nicht sein. Es war nicht gut, wenn Lucio Probleme bekam.
»Ich will euch sagen, was ich gesehen habe. Hört genau zu. Es kann sein, dass sich der eine oder andere von euch davon angesprochen fühlt.«
»Reden Sie, Lucio!«, flüsterte Griffin.
Zuvor huschte ein Lächeln über den Mund des Mediums. Er senkte seinen Kopf wieder und legte ihn zugleich auf die Seite, damit ein Teil von ihm im Schatten lag. Ein großartiges Statement konnte man von ihm nicht erwarten, und danach sah es auch nicht aus.
»Ich habe den direkten Kontakt mit dem Jenseits nicht herstellen können, weil mich etwas gestört hat«, flüsterte er mit seiner markanten Stimme, die vor allen Dingen die Konsonanten stark betonte. »Ich war immer nur in der Lage, ein Bild zu sehen. Es drängte sich wie von einer fremden Kraft geleitet in meinen Kopf hinein, und es ist kein gutes Bild gewesen, das muss ich sagen.«
»Was hast du denn gesehen?«
Wieder hatte die neugierige Frau die Frage gestellt. Sie schaute den Brasilianer an wie ein Geier seine Beute.
»Ich sah eine tote
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