1315 - Das Lied von Blut und Tod
der rechten Seite zurück. »Ich habe gespürt, dass die Zeit reif ist. Sehr genau sogar.«
»Kannst du uns das erklären?«
»Nein, Mona, nicht so richtig. Es lag an meiner Musik. Ich habe sie immer wieder gespielt. Diese alten wunderbaren Melodien. Ich bin auch stets davon überzeugt gewesen, dass sie irgendwann einmal gehört werden würden, und das ist so geschehen. Sie wurde empfangen. Es war alles wunderbar, und ich habe durch meine Musik die Botschaft erhalten.«
»Wie und von wem?«
Vanessa zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht, aber ich bin extra zu euch gekommen. Ich will diese Nacht abwarten. Sie muss etwas Besonderes sein. Es vibriert. Der große Umbruch steht dicht bevor. Spürt ihr es denn nicht? Habt ihr keine Botschaft erhalten? Die Tür für unser neues Leben ist weit aufgestoßen worden. Wir werden die Dunkelheit noch mehr lieben, weil sie uns Schutz und Sicherheit bietet. Das weiß ich alles, das steckt tief in mir.«
Mona küsste Vanessa auf die bleichen Wangen. »Das kann sein, meine Liebe. Auch Mike und ich haben die Unruhe gespürt. Wir sind so stark geworden. Wir haben uns nicht festnehmen lassen. Wir haben den Bullen einen verdammten Streich gespielt.« Sie atmete tief ein. »Und jetzt werden wir unseren Weg bis zum Ende gehen.«
»Und mich nehmt ihr dabei mit, ja?«
»Klar. Wir gehören doch zusammen.«
»Das ist wunderbar.«
Vanessa hob ihr Instrument an. Sie lächelte glückselig und fing wieder an zu spielen.
Erneut waren es die schwermütigen Melodien, die sie ihrer Geige entlockte. Immer wieder klang die Sehnsucht nach dem Tod darin mit. Vanessa spielte nicht laut. Es waren eher die leisen und nicht störenden Klänge, die Vanessa durch die Kapelle schickte, in deren Innern sich ein Friedhof befand, wie ihn sich die Geschwister wünschten.
Mona umfasste die rechte Hand ihres Bruders. Sie hob dessen Arm an. »Hast du dich schon entschieden?«
»Ja.«
»Dann bleiben wir hier?«
Er nickte. »Ich freue mich auf den Sarg. Wer sollte uns hier finden? Und es liegen noch einige Stunden der Dunkelheit vor uns. Ist das nicht wunderbar?«
»Sie werden vergehen wie immer.«
»Nein, Mona, diesmal nicht, das weiß ich. Wir müssen Vanessa glauben. Sie hat etwas erfahren. Ihr Spiel hat Grenzen oder Tore geöffnet. Ich weiß, dass etwas unterwegs ist.«
»Was? Wer?«
»Unser endgültiges Schicksal.«
Mike hatte mit einem derartigen Ernst gesprochen, dass Mona gar nicht auf die Idee kam, etwas Gegenteiliges zu sagen. Sie überlegte nur, bevor sie nickte.
Dann fragte sie: »Soll Vanessa bei uns bleiben?«
»Das muss sie entscheiden. Uns stehen drei Schlafplätze zur Verfügung.«
Mona wandte sich an die Geigerin. »Vanessa, wir möchten dich was fragen.«
Das Spiel verstummte, und Vanessa drehte ihren Kopf. »Bitte, was wollt ihr…«
»Willst du hier übernachten?«
Die Geigerin tat, als wäre sie von der Frage überrascht worden.
Sogar ihr Gesicht rötete sich leicht. »Ich hatte es vorgehabt, denn ich bin es schließlich gewesen, die gespürt hat, dass etwas unterwegs ist und bald hier sein wird.«
Mona lächelte sie an. »Mike und ich haben nichts dagegen, wenn du bei uns bleibst.«
»Danke.« Sie schlug die Augen nieder. »Ich mag meinen Sarg wirklich. Man wird mich auch nicht vermissen.«
Mike, der zugehört hatte, musste lachen. »Da hast du Recht. Uns vermisst man auch nicht.«
Mona deutete auf die Geige. »Willst du denn noch spielen?«
»Nicht mehr. Ich habe meine Pflicht getan. Ich weiß, dass man mich gehört hat.«
»Dann sollten wir jetzt unsere Vorbereitungen treffen. Oder was meinst du, Mike?«
»Ich bin dafür.«
Die Kapelle war ihr Heim. Sie war zugleich ihr Schutz. Sie gab ihnen das, was sie fühlten.
Mike fing an. Da Vanessa den Sargdeckel verlassen hatte, war es kein Problem für ihn, an seinen Schlafplatz heranzukommen. Unterteil und Deckel bestanden aus altem grauen Stein. Sie waren entsprechend schwer und nicht so leicht zu bewegen.
Aber Mike hatte Routine darin. Er fasste den Deckel an den sich diagonal gegenüberliegenden Enden an und drehte ihn nach links.
Es entstand ein Kratzen, das bei vielen Menschen sicherlich eine Gänsehaut hinterlassen hätte, für die drei Personen war es wie Musik.
Delano schob den Deckel so weit zurecht, dass er recht bequem in das Unterteil steigen konnte. Der Sarg war doppelt so hoch wie ein normaler. Er musste sich schon hochstemmen, um hineinklettern zu können. Bei den beiden Frauen war dies nicht
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