1315 - Das Lied von Blut und Tod
Bewegungen wieder unter Kontrolle bekam und sie glatt und flüssig abliefen.
Das genau erlebte sie hier.
Mike ging, aber er schwankte und geriet sogar leicht ins Stolpern, konnte sich wieder fangen. Er wirkte mehr wie eine Figur, die durch irgendeine Mechanik gelenkt wurde, wobei die Bewegungen noch nicht so richtig harmonierten.
Eines jedoch war sicher.
Er wollte Blut!
Das Blut seiner Schwester!
Jetzt wäre für Mona der Zeitpunkt gekommen, wo sie hätte aufstehen und fliehen müssen. Doch sie erlebte das, was man auch in vielen Filmen sah und was die Spannung erhöhen sollte. Da musste der Zuschauer mitzittern, wenn der Held oder die Heldin in eine so große Gefahr geriet. Bei Mona war es so. Sie kam nicht weg. Sie fühlte sich wie festgeleimt, auch wenn der Vergleich noch so abgedroschen war. Ihr war klar vor Augen, dass sie ihr normales Leben verlieren und in eine andere Existenz eintreten würde, doch sich aus dieser Fessel zu befreien, das gelang ihr leider nicht. Sie fühlte sich gefangen wie in einem schweren Netz aus Eisen, und sie selbst war auch schwerer geworden, denn der Körper gehorchte ihr nicht mehr. So blieb sie einfach nur sitzen.
Mike kam näher.
Er schwankte noch etwas. Mit jedem Schritt, den er hinter sich brachte, wurden seine Bewegungen sicherer. Den Oberkörper hielt er etwas nach vorn gebeugt, und seine Arme schwangen dabei wie Pendelstangen hin und her.
Er hob die Beine nicht richtig an, und so schleiften seine Füße über den Boden, aber er stolperte nicht mehr. Dafür schwang sein Kopf von einer Seite zur anderen, und er bewegte auch seine Hände. Mal schloss er die Fäuste, dann öffnete er sie wieder, und plötzlich war alles anders. Er tauchte dicht vor Mona auf, die endgültig wusste, dass sie ihre Chance zur Flucht vertan hatte.
»Mike! Bit…«
Er hörte nicht mehr.
Mike ließ sich fallen.
Mona spürte die Schwere des Gewichts. Sie wurde zu Boden gedrückt, und sie rutschte dabei mit dem Rücken an der Wand entlang, wo sie sich nicht mehr halten konnte und zu Boden fiel.
Wieder hatte ihr Kopf etwas abbekommen, doch das war nichts im Vergleich zu dem Wahnsinn, den sie jetzt erlebte, denn sie wurde flach auf den Rücken gelegt und zu Boden gedrückt.
Mike lag auf ihr.
Sein Mund stand noch immer offen.
Mona schaute tief in seinen Rachen hinein, und es kam ihr vor, als wäre es der Weg in die Hölle. Erst jetzt stellte sie fest, dass kein Atem sie erreichte. Es stimmte also alles, was man sich über Vampire erzählte und was über sie geschrieben wurde.
»Nein, Bruder, nein…«
Sein Kopf schien nach unten zu fallen. Er stand vor dem ersten Biss, und zielsicher fand er mit den neuen Zähnen die Stelle, auf die es ihm ankam.
Mona spürte den Biss und schrie. Es war mehr eine Reaktion auf den Schock als auf den Schmerz. Der Schrei blieb nicht lange bestehen. Er verwandelte sich wenig später in ein leises Wimmern, das ebenfalls verstummte.
Es wurde wieder still.
Nicht wirklich, denn durch die Stille klangen noch die gierigen Schmatz- und Sauggeräusche des Vampirs…
***
Auf der Treppe nach unten wäre Vanessa beinahe ausgerutscht. Irgendjemand hatte die Stufe als zweckentfremdeten Abfallkorb für eine Bananenschale benutzt, und das konnte verdammt gefährlich werden. Für sie wurde das Geländer zum Retter, denn sie klammerte sich mit einer Reflexbewegung daran fest und war froh, dass sie dabei ihre wertvolle Geige nicht verlor. Für Vanessa war sie wertvoll, auch wenn niemand dafür zahlreiche Pfund oder Euro bezahlt hätte. Für sie zählte eben mehr der ideelle Wert.
Auch die letzten drei Stufen ließ sie hinter sich und stand vor ihrer Tür im Souterrain. Es war eine Wohnung, die zwar ein Fenster hatte, da es jedoch so tief lag, drang nur bedingt das Licht des Tages in den großen Raum, dessen Tür sie jetzt aufschloss.
Wie schon erwartet betrat sie ein Halbdunkel. Es war niemand da, der sie begrüßte. Vanessa besaß weder eine Katze noch einen Hund noch einen Wellensittich. Zur Unterhaltung diente einzig und allein ihre Geige. Sie war ihre Freundin, der Bogen ihr Freund.
Es gab sicherlich nicht viele Menschen, die eine Wohnung wie diese noch zusätzlich dunkel eingerichtet hatten. Vanessa hatte es getan. Es kam ihrem Gruftie-Image zupass.
Die dunkle Liege war mit Samt überzogen. Auf dem viereckigen Tisch standen graue Kerzen in schwarzen Ständern, und das Licht hatte sie zusätzlich gedimmt, sodass im Raum eigentlich immer eine gewisse Dämmerung
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