1330 - Die Kopfgeldjägerin
können, dann war plötzlich etwas gegen seine Stirn geschlagen und hatte ihn von den Beinen gerissen. Mit blutender Kopfwunde war er zu Boden gefallen und von Elsa Gunn an den Füßen in das Esszimmer geschleift worden.
Sie hatte sich schon auf dem Weg dorthin die Gesichter der übrigen Familienmitglieder vorgestellt. Die Vorstellungskraft aber war von der Realität übertroffen worden.
Ihre Gesichter waren ungläubige, entsetzte Masken.
Es war nicht mal gestöhnt worden.
Stummheit!
Die Kopfgeldjägerin war weitergegangen. Vor einer Couch mit Blümchenmuster hatte sie den Mann losgelassen. Mit dem rechten Fuß war er hart auf den Boden geschlagen, und dieses dumpfe Geräusch hatte Mutter und Kinder aus ihrer Starrheit gerissen.
Nicht die Frauen schrien, sondern der Junge. Was da tief aus seiner Kehle drang, war der Urschrei der Angst. Auch ihn konnte man kaum beschreiben. Er wurde lauter und länger. Genau das wollte Elsa Gunn nicht. Sie hielt ihren Revolver in der Hand. Mit ihm schlug sie bei Ken Bulder zu. Tim wurde nur von ihrer Handfläche getroffen, aber die Wucht war so stark, dass er vom Stuhl fiel und wimmernd am Boden liegen blieb.
Für Elsa war es der starke Auftritt gewesen, und sie hatte sich mit einer Frage an Amy Bulder gewandt.
»Ist Ihnen klar, wer hier das Sagen hat?«
Nicken, nicht mehr.
»Gut. Ab jetzt habe ich das Kommando. Und ich sage Ihnen allen hier, dass ich noch human gewesen bin. Ich kann auch anders, wenn man mir nicht gehorcht. Ist das klar?«
»Ja.«
»Mummy, wer ist diese Frau?«, quengelte die sechsjährige Karen.
»Sei still, Kind, es wird nichts passieren.«
Karen war nicht still. »Warum hat sie Tim so gehauen? Und was ist mit Dad passiert?«
Amy streichelte ihre Tochter. »Bitte, Karen, du musst jetzt ruhig sein. Es wird alles wieder gut werden.«
Elsa Gunn lachte. »Das hoffe ich für mich und auch für euch.«
Amy fand den Mut, eine Frage zu stellen: »Warum gerade wir? Was… was … haben wir Ihnen getan?« In ihrer Frage lag die gesamte Hilflosigkeit, die sie quälte.
»Es ist Zufall. Es geht nicht gegen Sie persönlich. Sie können es auch Schicksal nennen. Sie wohnen eben zu ideal hier auf dem flachen Land. Aber ich will Ihnen sagen, was geschehen soll und hoffentlich auch so eintritt. Jemand wird hier erscheinen, und wenn er die Frist einhält, werde ich mit ihm verschwinden. Das ist alles. Kommt er nicht, werden Sie das zu spüren bekommen. Dann muss ich die Familie der Reihe nach auslöschen.«
Amy Bulder wunderte sich über sich selbst und auch darüber, wie stark sie war. Sie sprang nicht auf, sie schrie nicht, sie drehte nicht durch, sie blieb einfach auf ihrem Stuhl sitzen. Sie dachte dabei an ihre Kinder, und dieses Denken zwang sie zur Selbstdisziplin.
Tim bewegte sich. An der Tischkante zog er sich hoch. Er hielt dabei die andere Hand gegen seine rechte Wange gepresst. In den Augen schimmerten Tränen, doch er heulte nicht. Er jammerte auch nicht. Die Tränen hatte wohl der Trotz verursacht.
»Setz dich auf deinen Stuhl, Tim!«
Der Junge blieb stehen.
Das wiederum passte Elsa nicht. »Tu, was dir deine Mutter gesagt hat. Sonst ist deine nächste Backe auch noch dran.«
Tim war neun. Er verstand schon recht gut, was hier ablief.
Außerdem war er ein Kenner bestimmter TV-Serien, und wenn seine Eltern nicht zu Hause waren, schaute er heimlich Buffy. Da hatte er schon ähnliche Szenen erlebt.
Aber er war schlau genug, um zu wissen, dass sie hier keinen Film erlebten. Das war alles echt, ebenso wie die Waffe in der Hand der fremden Frau.
Tim nahm seinen Platz wieder ein.
»Geht doch«, sagte Elsa.
Der Tisch war gedeckt. Auf einem Teller stapelten sich sechs Pfannkuchen, die allesamt mit Apfelscheiben belegt waren und einen Zimtüberguss erhalten hatten. Die Düfte erfüllten den Raum, sie hatten den Appetit der Kinder angeregt, doch jetzt dachte keiner von ihnen mehr ans Essen.
»Kann ich zu meinem Mann?«
»Nein!«
»Aber er…«
»Nein, habe ich gesagt!« Amy wurde regelrecht angepfiffen. »Er ist nicht tot. Er schläft nur etwas fester als sonst. Sei froh, dass ich ihm keine Kugel durch den Hals geschossen habe.«
Amys Lippen zuckten. Stocksteif hockte sie auf ihrem Platz. »Sie… Sie … sind kein Mensch mehr.«
»Gut geraten, meine Liebe. Wenn ich unterwegs bin, fühle ich mich auch mehr als Raubtier auf zwei Beinen. Nehmen Sie meinen Besuch als kleine Erfahrung hin. Wenn alles so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe, bin ich
Weitere Kostenlose Bücher