1331 - Hochzeitskleid und Leichenhemd
aus, als hätte er ein normales Hotelzimmer betreten, wie es sie in unzähligen Häusern gab.
Er musste in einen Flur hineingehen, der jedoch breiter war.
Rechts war die Tür zum Bad nicht geschlossen. Er konnte einen Blick in den hell gekachelten und sehr geräumigen Raum hineinwerfen.
Am Ende des Flurs öffnete sich die Umgebung. Ein ziemlich großes Zimmer lag vor ihm. Es war als Wohnraum eingerichtet, und es gab auch eine eigene Essecke. In einem weiteren Zimmer konnte geschlafen werden, aber dort war die Tat nicht passiert.
Man hatte Marietta hier in dem Wohnraum gefunden, bekleidet und schrecklich aussehend.
Er sah auch, wo sie gelegen hatte. Auf dem Holzboden war die Position des Körpers mit Kreidestrichen markiert worden. Als er das sah, schoss wieder eine Hitzewelle in ihm hoch, und er spürte auch, wie seine Augen feucht wurden. Das Atmen engte ihn ein, der Schwindel kam, und Harry hielt sich an einer Sessellehne fest.
Ruhe finden. Durchatmen. Die Gefühle unter Kontrolle bekommen. Das war es für ihn, was zählte, aber es war auch so verdammt schwer. Harry hatte sein altes Leben verlassen und war in ein neues hineingetreten, mit dem er noch nicht fertig wurde.
Wieder drängte sich die Übelkeit hoch. Er musste aufstoßen. Er schluckte und riss sich mit Gewalt zusammen.
Ruhig bleiben. Nicht verrückt machen lassen. Nicht mehr daran denken, wie Marietta hier umgekommen war. Stark sein, um alles verkraften zu können.
Für eine Weile hielt er den Kopf gesenkt und hob ihn dann mit einer behäbigen Bewegung wieder an. Dabei öffnete er auch die Augen und schaute nach vorn.
Die offene Tür zum Schlafzimmer geriet in sein Blickfeld. Sie war nicht bis zum Anschlag aufgezogen worden, aber so weit, dass er in das Zimmer hineinschauen konnte.
Dort bewegte sich etwas!
Harry zuckte nur einmal kurz zusammen, dann erstarrte er. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er hin und wünschte sich, einer Täuschung erlegen zu sein.
Sei ruhig!, hämmerte er sich ein. Du musst die Nerven behalten.
Dort ist niemand. Da kann keiner sein. Das verdammte Zimmer ist leer.
Daran glauben wollte er nicht. Stattdessen brauchte er Gewissheit. Er wollte unbedingt wissen, ob er sich getäuscht hatte oder nicht. Dazu war es nötig, die Angst zu überwinden, und das war nicht ganz einfach.
Es fiel ihm schwer, auf seine eigene Stärke zu vertrauen. Er focht einen innerlichen Kampf aus, den er für sich entschied. Harry wollte es genau wissen und nachschauen, ob sich in diesem Schlafzimmer tatsächlich etwas bewegt hatte. Auf dem kurzen Weg dorthin dachte er darüber nach, was ihm aufgefallen war. Nicht mehr als ein Schatten, der nicht mal dunkel war, sondern hell. Auch etwas Seltenes.
Wieder klopfte sein Herz so wahnsinnig stark. Die Schläge erinnerten ihn an den Klang einer Trommel, unter deren Echos er litt.
Der Kopf war voller Gedanken, die sich in ein Rauschen verwandelten. Er schleifte mit den Sohlen über den Boden hinweg und hielt den Blick starr auf die halb geöffnete Tür gerichtet, weil er damit rechnete, die Bewegung erneut zu sehen.
Den Gefallen tat man Harry nicht. So kamen ihm allmählich erste Zweifel, und er dachte daran, sich getäuscht zu haben. Besser ging es ihm trotzdem nicht. Eine gewisse Furcht und auch Neugierde waren schon geblieben.
An der Tür blieb er stehen. Er schaute auf die Schwelle, dann drüber hinweg und ging einen weiteren Schritt nach vorn. Jetzt überblickte er das gesamte Schlafzimmer.
Die Einrichtung war ihm egal, denn er wurde nur von einem Ziel angezogen.
Er war nicht mehr allein im Raum. Vor ihm und nicht weit vom Fenster entfernt sah er eine helle Gestalt.
Eine Frau im Brautkleid!
***
In dieser Sekunde veränderte sich sein gesamtes Denken. Was er da zu sehen bekam, war nicht mehr zu begreifen. Die Gestalt konnte kein Mensch sein und trotzdem war sie es.
Eingehüllt in ein blütenweißes Hochzeitskleid schaute sie in seine Richtung. Das Kleid schien ihr zu groß zu sein, weil es sich mit seiner Schleppe auf dem Boden ausbreitete. Er kannte die Form des Kleides und ebenfalls die Schleppe, denn dieses Kleid hatte mal seiner Freundin gehört.
Und jetzt?
Harry konnte sich selbst keine vernünftige Antwort geben. Er hörte sich aufstöhnen, während sich in seinem Innern allmählich etwas ausbreitete, mit dem er nicht zurechtkam. Er wollte es auch nicht als Gefühl bezeichnen, es war mehr eine Lähmung, die sein Inneres ebenso betraf wie sein Äußeres. Es war ihm einfach
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