1349 - Lilians tödlicher Blumenzauber
deutlicher wahr, abgegeben von den Pflanzen, die in Kübeln an der Seite standen. Und sie glaubte auch, all die Tränen zu riechen, die hier vergossen worden waren, und ebenfalls das Aroma des Weihrauchs.
Das alles lenkte sie trotzdem nicht von der Toten ab. Ihr war wieder kalt geworden.
Eigentlich hätte es sie schon längst aus diesem Haus treiben müssen, aber etwas hielt sie fest. Ähnlich einem sechsten Sinn, der ihr klar machte, dass etwas passieren würde.
Und so wartete Maxine, den Blick starr auf das Gesicht des toten Mädchens gerichtet.
Daisy Corner war erstickt. Aber woran? Man erstickte, wenn man keine Luft mehr bekam. Und warum hatte sie die nicht bekommen?
Doch nicht einfach so, und bei ihr war zudem keine Gewalt angewendet worden. Die Mutter hatte sie morgens im Bett tot aufgefunden und war fast durchgedreht. Keine Gewalt. Keine Druckstellen am Hals und an der Kehle. Augenscheinlich war alles mit rechten Dingen zugegangen.
Die Lippen zitterten plötzlich!
Maxine hatte es gesehen. Sie war zusammengezuckt und wollte es zunächst nicht glauben. Etwas Kaltes schien in ihr Inneres einzudringen und ihr Herz zu umklammern.
War Daisy Corner doch nicht tot?
Konnte man sie als Zombie ansehen? Oder nur als Scheintote?
Wieder rann ein Schauer über ihren Körper. In der letzten Zeit hatte sie genug über Scheintote gelesen. Es passierte immer wieder, dass Menschen für tot erklärt wurden und es in Wirklichkeit nicht waren.
Auch hier?
Das Zucken der Lippen war keine Sinnestäuschung gewesen, denn es trat erneut auf, was sie genau mitbekam. Maxine verfiel nicht in Panik. Sie blieb stehen und beobachtete weiter. Es musste eine Erklärung für die Bewegungen geben, und auf einmal sah sie, dass sich die Lippen öffneten, als hätten sie einen gewissen Druck bekommen.
Das traf auch zu.
Von innen her, gewissermaßen aus der Mundhöhle, war dieser Druck gekommen. Und zwar so stark, dass er durchaus in der Lage dazu war, die Lippen der Toten zu öffnen.
Maxine richtete ihr Augenmerk auf den schmalen Spalt, der nicht mehr so dünn blieb, weil sich der Druck im Mund der Toten verstärkte. Die innere Kraft vermochte es, den Mund tatsächlich zu öffnen, und die Augen der Tierärztin weiteten sich, als sie sah, was sich daraus hervorschob, obwohl es eigentlich keine richtige Überraschung war, sondern ihren Entdeckungen entsprach.
Aus dem Spalt schob sich eine weiße Blüte!
***
Es war nicht zu fassen. Maxine Wells schaute hin, und sie kam sich vor, als hätte man sie in eine andere Welt versetzt. Einen Anblick so zu erkennen war etwas anderes als zu erleben, wie sich bei einem toten Menschen etwas veränderte, was sie nicht nachvollziehen konnte.
Die Blume wuchs. Mit ihrer Blüte hatte sie zuerst ihr Gefängnis verlassen, und als sie die Freiheit spürte, da faltete sie ihre Blütenblätter auf.
Maxine schaute zu. Sie war von dem Anblick fasziniert, aber nicht abgestoßen. Auch hatte sie sich wieder so weit gefangen, dass sie endlich herausfand, welche Blume da aus dem Mund wuchs.
Es war eine Lilie!
So weiß, so unschuldig. Maxine Wells, die Blumen an sich sehr schätzte, mochte sie trotzdem nicht. Für sie waren weiße Lilien nichts anderes als Totenblumen.
Aber hier passten sie her!
»Mein Gott, was ist das nur?«, flüsterte die Tierärztin. Sie sprach zum ersten Mal, seit sie die Leichenhalle betreten hatte. Sie wusste nichts mehr, und eine Erklärung fand sie erst recht nicht.
Die Blume hatte sich weit genug aus dem Mund hervorgeschoben. Sie knickte auch nicht ab und fiel nicht nach unten, nein, sie blieb auf den Lippen kleben oder hängen.
Es passte zum übrigen Bild. Dennoch konnte sich Maxine damit nicht abfinden. Sie schüttelte sich, sie hörte ihren eigenen heftigen Atem. Sie spürte den Druck an den Augen und leckte über ihre spröden Lippen. Es war ihr auch klar, was passieren würde, wenn man die tote Daisy so entdeckte. Die Menschen würden durchdrehen, sie würden vor allen Dingen Fragen stellen, auf die es keine normale Antwort gab.
Was ging hier vor?
In Maxines Kopf schien sich ein Rad zu befinden. Alles drehte sich in einem wahren Durcheinander. Sie spürte, dass ihr Herzschlag sich beschleunigt hatte. Durch ihren Kopf tobten so viele Gedanken und Vorstellungen, die sie alle nicht sortieren konnte. Es stand nur fest, dass dies kein normaler Fall war. Hier war eine Macht im Spiel, die Maxine frösteln ließ.
Zum ersten Mal kam ihr konkret der Gedanke John Sinclair zu
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