1356
«Nein, die Franzosen haben ihn umgebracht. Sie kamen aus Avignon.»
«Avignon!»
«Der Priester kam von dort. Er hieß Vater Calade.» Sie bekreuzigte sich erneut. «Er hatte grüne Augen, und ich mochte ihn nicht. Unserem Sire wurde das Augenlicht genommen! Der Priester hat ihm die Augen ausgestochen!»
«Gütiger Gott», sagte Fra Ferdinand leise. «Woher wisst Ihr, dass er aus Avignon kam?»
«Das haben sie selbst gesagt! Die Männer, die er hiergelassen hat, haben es uns erzählt. Sie haben gesagt, wenn wir ihnen nicht geben, was sie haben wollen, würde der Heilige Vater höchstselbst einen Fluch über uns alle verhängen.» Sie hielt gerade lange genug inne, um sich wieder zu bekreuzigen. «Die Engländer haben uns das auch gefragt. Ihr Anführer hat mir nicht gefallen. Eine seiner Hände hat wie die Pranke des Teufels ausgesehen, wie eine Klaue. Er war höflich», räumte sie widerwillig ein, «aber unbarmherzig. Ich habe ihm an der Hand angesehen, dass er böse war.»
Fra Ferdinand wusste, wie abergläubisch die alte Frau war. Sie war eine gute Seele, aber sie sah Vorzeichen in den Wolken, den Blumen, den Hunden, dem Rauch; einfach in allem. «Haben sie nach mir gefragt?»
«Nein.»
«Gut.» Der Mönch hatte vor einiger Zeit in Mouthoumet eine Zuflucht gefunden. Er war es müde geworden, über die Straßen Frankreichs zu ziehen. Der alte Mann hatte ihn zum Bleiben eingeladen. Sie hatten miteinander gesprochen, miteinander gegessen und Schach gespielt, und der Comte hatte Fra Ferdinand all die alten Geschichten von den Schattenfürsten erzählt. «Die Engländer werden zurückkommen, glaube ich», sagte der Mönch nun, «und die Franzosen vielleicht auch.»
«Warum?»
«Weil sie etwas suchen.»
«Sie haben schon gesucht! Sie haben sogar die frischen Gräber geöffnet, aber sie haben nichts gefunden. Die Engländer sind nach Avignon geritten.»
«Wisst Ihr das genau?»
«Das haben sie gesagt. Dass sie Vater Calade nach Avignon folgen.» Erneut bekreuzigte sie sich. «Was kann ein Priester aus Avignon hier wollen? Und weshalb sind die Engländer nach Mouthoumet gekommen?»
«Deshalb», sagte Fra Ferdinand und zeigte ihr die Klinge.
«Wenn das alles ist», sagte sie böse, «dann gebt es ihnen!»
Der Comte de Mouthoumet hatte befürchtet, dass die Engländer auch die Gräber von Carcassonne plündern würden, und deshalb den Mönch gebeten,
La Malice
zu retten. Fra Ferdinand vermutete, dass der alte Mann die Klinge auch selbst gern berührt hätte, gern selbst dieses Wunderding gesehen hätte, das seine Vorfahren gehütet hatten – eine Reliquie mit solch enormen Kräften, dass ihr Besitz die Seele eines Mannes ohne Umwege ins Himmelreich bringen würde. Der alte Mann hatte ihn so flehentlich gebeten, dass Fra Ferdinand zugestimmt hatte. Er hatte
La Malice
gerettet, aber seine Mitbrüder predigten, das Schwert sei der Schlüssel zum Paradies, und in der gesamten Christenheit gierten Männer nach dieser Klinge. Warum predigten sie das? Er vermutete, dass er selbst daran schuld war. Nachdem ihm der Comte die Legende von
La Malice
erzählt hatte, war der Mönch pflichtbewusst nach Avignon gegangen und hatte die Geschichte dem Generalsuperior seines Ordens weitergegeben, und der Generalsuperior, ein guter Mann, hatte gelächelt und dann gesagt, solche Geschichten würden immer wieder erzählt und keine hätte jemals der Wahrheit entsprochen. «Weißt du noch, vor zehn Jahren», hatte der Generalsuperior gefragt, «als die Pest ausgebrochen ist? Und wie die ganze Christenheit geglaubt hat, der Heilige Gral wäre aufgetaucht? Und davor, was war das noch? Ah ja, da war es die Lanze von Sankt Georg! Und das war ebenfalls Unsinn, aber ich danke dir, Bruder, dass du es mir erzählt hast.» Er hatte Fra Ferdinand mit einem Segen weggeschickt, aber hatte der Generalsuperior vielleicht anderen von der Reliquie erzählt? Und jetzt hatte sich das Gerücht dank der Predigermönche in ganz Europa ausgebreitet. «‹Er, der über uns regieren soll, wird es finden, und er soll gesegnet sein›», sagte der Mönch.
«Was bedeutet das?», fragte die alte Frau.
«Es bedeutet, dass manche Männer bei der Gottessuche den Verstand verlieren», erklärte Fra Ferdinand, «es bedeutet, dass jeder machthungrige Mann nach einem Zeichen Gottes sucht.»
Die alte Frau runzelte die Stirn, weil sie nicht verstand, was Fra Ferdinand damit sagen wollte, aber sie hielt ihn ohnehin für einen seltsamen Patron. «Die Welt hat den
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