1356
die Kirche war durch das Schisma gespalten. Aber in Avignon war die Macht konzentriert, und Thomas staunte vor den Reichtümern, die in dem enormen Gebäude zur Schau gestellt wurden.
«Nach Eurer Aussprache zu schließen», sagte der Maler, «würde ich sagen, Ihr seid Normanne. Oder vielleicht Engländer, eh?»
«Normanne», sagte Thomas.
«Und was tut ein Normanne so weit weg von zu Hause?»
«Ich möchte den Heiligen Vater sehen.»
«Natürlich wollt Ihr das. Aber was tut Ihr hier? In der
Salle des Herses
?»
Die
Salle des Herses
war ein Raum, der von der großen Audienzhalle der Papstresidenz abging und einst den Mechanismus beherbergt hatte, mit dem das Fallgitter des Palasttores abgesenkt wurde, doch die Konstruktion aus Winden und Wellen war schon lange ausgebaut worden, sodass der Raum nun in eine weitere Kapelle umgewandelt werden konnte. Thomas zögerte etwas mit der Antwort, dann sagte er die Wahrheit. «Ich habe eine Stelle zum Pissen gesucht.»
«Die Ecke dahinten», der Maler deutete mit seinem Pinsel in die Richtung, «in das Loch unter dem Bild von Sankt Joseph. Da huschen die Ratten hinein, also tut mir einen Gefallen und ertränkt ein paar von den Biestern. Und was wollt Ihr vom Heiligen Vater? Die Vergebung Eurer Sünden? Einen Passierschein in den Himmel? Einen seiner Chorknaben?»
«Nur einen Segen», sagte Thomas.
«Damit bittet Ihr um sehr wenig, Normanne. Ihr müsst um viel bitten, dann bekommt Ihr vielleicht ein wenig. Oder vielleicht auch gar nichts. Dieser Heilige Vater ist nicht anfällig für Bestechung.» Der Maler stieg von dem Gerüst herunter, begutachtete seine Arbeit mit einer Grimasse und ging dann zu einem Tisch, auf dem kleine Töpfe mit Farbpigmenten standen. «Es ist gut, dass Ihr kein Engländer seid! Der Heilige Vater mag die Engländer nicht.»
Thomas knöpfte seine Hose zu. «Nein?»
«Nein», sagte der Maler, «und woher ich das weiß? Weil ich alles weiß. Ich male, und sie beachten mich nicht, weil sie mich nicht sehen können! Ich bin Giacomo auf dem Malergerüst, und sie reden unter mir. Nicht hier drin», knurrte er, als wäre der Raum, den er ausmalte, die Mühe nicht wert, «aber ich übermale auch die nackten Brüste der Engel im Konklavesaal, und dort reden sie. Schnatter, schnatter, schnatter! Wie die Gänse stecken sie die Köpfe zusammen und schnattern, und Giacomo ist auf dem Gerüst über ihnen damit beschäftigt, Brüste zu verstecken, also vergessen sie, dass ich dort oben bin.»
«Und was sagt der Heilige Vater über die Engländer?»
«Ihr wollt mein Wissen? Dann zahlt Ihr.»
«Soll ich ein bisschen Farbe auf Eure Decke streichen?»
Giacomo lachte. «Wie ich höre, Normanne, will der Heilige Vater, dass die Franzosen die Engländer besiegen. Es sind drei französische Kardinäle hier, die ihm ständig in den Ohren liegen, dabei braucht er ihre Aufmunterung gar nicht. Er hat vom Burgund verlangt, an der Seite Frankreichs zu kämpfen. Er hat Botschaften nach Toulouse, in die Provence, in die Dauphiné und sogar in die Gascogne geschickt und den Männern erklärt, es sei ihre Pflicht, England Widerstand entgegenzusetzen. Der Heilige Vater ist Franzose, das darf man nicht vergessen. Er will, dass Frankreich wieder stark wird, stark genug, um der Kirche Steuern zu zahlen. Die Engländer sind hier nicht beliebt», er hielt inne und warf Thomas einen listigen Blick zu, «also ist es sehr gut, dass Ihr kein Engländer seid, was?»
«Ja, das ist gut», sagte Thomas.
«Der Heilige Vater wäre imstande, einen Engländer zu verfluchen», sagte Giacomo und lachte in sich hinein. Dann stieg er wieder auf sein Gerüst und sprach dabei weiter. «Die Schotten haben Männer geschickt, die für Frankreich kämpfen sollen, worüber der Heilige Vater höchst erfreut ist! Er sagt, die Schotten sind treue Söhne der Kirche, und er will, dass die Engländer», er hielt inne, um einen Pinselstrich auszuführen, «bestraft werden. Ihr seid also den ganzen weiten Weg gekommen, um einen Segen zu erhalten?»
Thomas war ans andere Ende des Raumes zu einem alten, verblassten Wandgemälde gegangen. «Um einen Segen zu erhalten», sagte er, «und um nach einem Mann zu suchen.»
«Ah! Wer?»
«Vater Calade?»
«Calade!» Giacomo schüttelte den Kopf. «Ich kenne einen Vater Callait, aber keinen Calade.»
«Stammt Ihr aus Italien?», fragte Thomas.
«Durch die Gnade Gottes stamme ich aus Corbola. Das ist eine venezianische Stadt», sagte Giacomo, stieg flink wieder
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