1357 - Nach dem Holocaust
Stückchen Stoff und etwas Speiseöl - Shu-Dans Erfindung - durchsuchte sie die Räume systematisch. Von der Waffe keine Spur. Sie zerrte die Kranken aus ihren Betten, durchwühlte Kissen und Decken, sah in jeden Schrank und jede Kiste vergeblich.
Als sie an die Kammer kam, die Shu-Dan und Ju-Mei bewohnt hatten, zögerte sie. Aber die Angst saß ihr im Genick, und so überwand sie ihre Abneigung und durchsuchte auch diesen Raum.
Sie fand die Waffe zwar auch hier nicht, aber dafür entdeckte sie etwas anderes: Shu-Dans Habseligkeiten waren verschwunden.
Er hatte nicht viel besessen - ein wenig Kleidung, ein paar Bücher, eine Handvoll kleiner Steinschnitzereien, die er in seiner Freizeit anfertigte, ein paar Bilder von Familienangehörigen und Freunden. All das paßte bequem in einen Tragebeutel, den er im untersten Fach seines Schrankes aufbewahrte. Jetzt jedoch war der Beutel verschwunden und der Inhalt des Schrankes ebenfalls.
Sue-El hatte plötzlich ganz weiche Knie. Sie mußte sich für einen Augenblick setzen. „So ist das also", murmelte sie vor sich hin. „Na warte, wenn ich dich erwische!"
Aber ihre Chancen standen schlecht, und sie wußte das recht gut.
Shu-Dan-H'ay war weggelaufen. Die Gründe waren Sue-El nicht ganz klar. Sie nahm an, daß es mit Ju-Mei-H'ays Tod zusammenhing.
Shu-Dan hatte seine Waffe mitgenommen, und wahrscheinlich hatte er auch Sue-Els Waffe mitgehen lassen. Sie hatte so fest geschlafen, daß es ihm sicher keine Schwierigkeiten bereitet hatte, sich in die Küche zu schleichen.
Aber selbst ein bewaffneter Kartanin hatte nur geringe Chancen, den langen Marsch durch den Dschungel von Hubei unbeschadet zu überstehen, noch dazu, wenn er alleine war.
Oder war er das gar nicht?
Er war irgendwie merkwürdig gewesen, als er von der Jagd kam. Vielleicht war es für ihn zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene Sache gewesen, daß er die ehemalige Esper-Schule verlassen würde. Er konnte andere Kartanin gefunden haben, die es ihm erlaubten, sich ihnen anzuschließen.
Sue-El machte sich mühsam klar, daß dies alles ziemlich unwichtig war. Tatsache war, daß sie nun alleine war, alleine mit rund zwanzig Kranken, von denen sie nicht wußte, wie sie sie ernähren sollte. Und draußen waren noch andere unterwegs.
Sie raffte sich auf und durchsuchte Ju-Mei-H'ays Schrank. Nicht, daß sie etwas zu finden erwartete - sie tat es nur der Vollständigkeit halber. Sie fand denn auch nichts, was ihr irgendwie hätte weiterhelfen können.
Irgendwo jammerte eine der Kranken, und eine andere antwortete mit wüsten Beschimpfungen. Schreien und Fauchen klangen auf und fanden ein Echo in einigen schrillen Lauten, die aus dem Dschungel drangen.
Sue-El saß regungslos auf Shu-Dans Lager. Ihr war zum Heulen zumute.
Offenbar war sie in der Kammer der beiden männlichen Kartanin eingeschlafen. Als sie erwachte, drang ein leichter Lichtschimmer durch die Tür - der Tag war gerade erst angebrochen. Sue-El hatte keine Lust, ihn früher als unbedingt nötig zu beginnen, und darum schloß sie die Augen wieder, nur um sie im nächsten Augenblick weit aufzureißen.
Irgendwo war ein Schnattern, das vage Erinnerungen in ihr weckte. Es war ein Geräusch, das nicht an diesen Ort gehörte.
Sie richtete sich auf, tastete gewohnheitsmäßig nach der Waffe und ließ die Hand resignierend sinken.
Sie schalt sich einen unheilbaren Dummkopf, weil sie am Abend einfach ihrer Müdigkeit nachgegeben hatte, anstatt wenigstens noch einmal in die Küche zu gehen und sich dort ein Messer zu holen.
Was ging dort draußen vor?
Wieder schnatterte es - beruhigend, dämpfend, mit gurrenden, tiefen Lauten dazwischen. Eine der Kranken schrie hysterisch, beruhigte sich aber schnell wieder. Eine andere kicherte.
Der jungen Kartanin standen die Haare zu Berge, aber sie riß sich zusammen, schlich zur Tür und spähte auf den Gang hinaus. Für einen Augenblick sah sie etwas Grünes um eine Ecke lugen, dann war es verschwunden. Sie rieb sich die Augen und dachte an eine optische Täuschung, aber dann sah sie wieder einen grünen Zipfel, und sie sprang mit einem wilden Satz los und packte dieses grüne Etwas, bevor es sich wieder davonmachen konnte.
Das grüne Etwas quiekte, zeterte und schnatterte und wand sich unter Sue-Els Händen, versuchte aber nicht, zu beißen oder zu kratzen. Als es merkte, daß es sich nicht so einfach losreißen konnte, hielt es still.
Sue-El betrachtete ihre Beute von oben bis unten und dachte mit
Weitere Kostenlose Bücher