1364 - Killer-Engel
Auch an ihr waren die letzten Minuten nicht spurlos vorüber gegangen. Im Inneren war sie aufgeregt, und ihren Pulsschlag wollte sie auch nicht als normal ansehen.
Froh war sie darüber, dass sie ihre Freunde angerufen hatte. Wie sie John und Suko kannte, würden die beiden sich sofort auf den Weg machen. Natürlich war London kein plattes Land mit wenig Autoverkehr. So würde es schon etwas dauern, bis sie eintrafen, und diese Zeitspanne musste sie überstehen. Bisher hatte sie es geschafft.
Purdy trat vor bis an die Brüstung. Sie legte ihre Hände darauf und schaute in den Himmel hinein, in dem ihrer Meinung nach die Gestalt verschwunden war. Bestimmt war sie weit weg, und auch bei Tageslicht hätte sie diesen Engel bestimmt nicht entdeckt.
Außerdem fragte sie sich, wohin Engel wohl flogen?
Ihr kam nur eine recht kindliche Antwort in den Sinn. Engel fliegen in den Himmel. Komischerweise konnte sie darüber nicht lachen, denn diese Gestalt, die sie auf dem Balkon gesehen hatte, entsprach bestimmt nicht den Vorstellungen über Engel aus ihrer Kindheit. Das war eine Schreckensgestalt gewesen, ein Gestalt gewordener Albtraum, und noch jetzt, in der Erinnerung, schüttelte sie sich, wenn sie daran dachte.
Natürlich stellte sie sich die Frage, ob er zurückkehren würde. Sie kannte seine Aufgabe nicht und auch nicht die Verbindung zu Bruce Everett. Warum hatte sich dieser Belial ausgerechnet ihn als Opfer oder sogar Helfer ausgesucht? Und warum hatte er den Schwarzen Tod zeichnen müssen, um danach zu erklären, dass er sein Vater sei?
Auf diese Fragen fand sie keine Antworten. Sie hoffte nur, dass es John und Suko gelingen würde, da sie Belial kannten.
Wie viel Zeit seit dem Anruf vergangen war, wusste sie nicht.
Purdy hatte nicht auf die Uhr geschaut. Noch einen letzten Blick warf sie nach vorn, um dann wieder zurück in das Zimmer zu gehen.
Vor ihr lag der Himmel wie eine Kulisse. Viele Gebäude waren höher als das Haus, in dem sie lebte, und so war ihre Sicht schon ein wenig eingeschränkt.
Über London wurde der Himmel nie richtig dunkel. Dafür sorgten schon die unzähligen Lichter, die ihren Schein in den Himmel warfen, sodass er ebenfalls nie richtig finster aussah. Aber das Licht war schwächer als die Finsternis, und so hatte es den Himmel nur gestreift, und erhielt keine Chance, das große Dunkel zu zerstören.
Etwas stimmte nicht.
Urplötzlich waren die Nerven der Staatsanwältin zum Zerreißen gespannt. Das Herz schlug schneller, und sie hatte das Gefühl, sich auf einmal nicht mehr bewegen zu können.
Jemand flog in diesen letzten hellen Streifen hinein. Es war keine Täuschung. Deutlich nahm sie die Bewegung war, und sie musste dabei an große Vögel denken, für die der Himmel genügend Bewegungsfreiheit bot.
Aber so große Vögel gab es nicht in London. Das konnte nicht stimmen. Krähen, Raben, Drosseln, Amseln und Tauben. Sie hielten sich auch in der Großstadt auf, aber die waren kleiner, wenn sie ihre Schwingen ausgebreitet hatten.
Der Gedanke an den seltsamen Lügenengel lag nahe. Nur flog er nicht allein, denn sie entdeckte mehrere Bewegungen an verschiedenen Stellen zugleich.
Einige Sekunden verstrichen, bis Purdy mehr erkannte. Da hatten sich die drei Flugwesen ihrem Haus genähert, und sie sah, dass sie in einer Formation flogen.
Sie blieben auf gleicher Höhe. Sie blieben nebeneinander. Sie hatten die Schwingen ausgebreitet und bewegten sie nur sehr langsam auf und nieder.
Aber sie kamen voran.
Und sie waren schnell.
So schnell, dass es nicht mehr lange dauerte, bis Purdy einige Einzelheiten erkannte.
Körper und Flügel.
Nicht ein Engel, sondern gleich drei. Sie wartete noch zwei Atemzüge lang. Da die Wesen näher an das Ziel herangekommen waren, sah sie auch die nackten und sehr bleichen Körper.
Mehr wollte Purdy nicht mitkriegen. Auf der Stelle fuhr sie herum und verschwand im Zimmer…
***
Die Staatsanwältin hatte die Tür recht heftig zugerammt, und durch dieses Geräusch war Bruce Everett aufgeschreckt worden, der vor einem schmalen Regal mit Fachliteratur stand und nun herumfuhr.
Er sah eine Frau, die sich verändert hatte. Sie machte eigentlich keinen ängstlichen Eindruck, obwohl sie ihre Ruhe verloren hatte und sich recht hektisch bewegte. Auf ihn wirkte sie wie eine Person, die sich verwandelt hatte und jetzt ihr zweites oder wahres Gesicht zeigte. Es kam Bruce vor, als wäre sie zu einer Kämpferin geworden.
Mit schnellen Schritten ging sie auf ihn
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