1369 - Eine grausame Wahrheit
dabei, abzutauen. An einigen Stellen hatte sich bereits Wasser gebildet. Es war zu Tropfen geworden, die in langen Bahnen von oben nach unten rannen und manchmal einen Zickzack-Kurs nahmen.
Nichts knirschte, wenn er sich bewegte und er musste es tun, um die Starre loszuwerden. Nicht nur mit ihren Beinen trat die Gestalt auf der Stelle, sie bewegte auch ihr Gesicht und öffnete den Mund weit, ohne dass wir jedoch irgendwelche Zähnen sahen.
Und er atmete nicht.
Kein Geräusch war zu hören. Keine Atemwolke erschien vor seinen Lippen.
»Tja, was tun wir?«
Ich gab Suko noch keine Antwort, weil ich es selbst nicht wusste.
Dabei ging ich gedanklich davon aus, dass uns diese Gestalt in dem Fall weiterbringen konnte, aber dazu hätte sie reden müssen, was sie sicherlich nicht konnte.
Ich konzentrierte mich auf das Gesicht. Trotz allem sah es noch recht normal aus. Auch wenn irgendwelche Flecken vorhanden waren, als bestünde die Haut aus einer fleckigen Decke.
Die Gestalt wollte sich bewegen. Sie drückte sich in die Knie. Sie kam wieder hoch, und sie benutzte dabei den Rand der Truhe weiterhin als ihre Stütze.
»Sollen wir im raushelfen?«, fragte Suko.
»Ja, wäre nett.«
Hinter mir hörte ich ein Geräusch. Ich drehte mich um und sah den Fischhändler, der Mühe hatte, ohne Stütze auf den Beinen zu bleiben. Er stand am Rand der Ladefläche, kippte leicht vor und zurück und konnte sich nicht entscheiden, was er unternehmen sollte.
»Bleiben sie weg, Mr. Jenkins.«
Er hatte mich gehört und hob den Kopf. Aus rot geäderten Augen schaute er mich an. »Was ist das denn?«, jaulte er fast auf. »Das ist doch ein Toter, der lebt – oder?«
»So ungefähr.«
»Wie ist das möglich?«
»Darüber müssen sie sich keine Gedanken machen. Das ist allein unser Problem.«
Er schwieg. In seinem Gesicht jedoch arbeitete es, und er war auch nicht mehr in der Lage, den Kopf normal zu halten.
Ich wandte mich wieder der Truhe zu. Die Gestalt hatte ihre Gymnastik beendet. Sie wirkte jetzt viel geschmeidiger, und ich wusste, dass sie keine Probleme damit haben würde, aus der Truhe zu klettern, um sich uns vorzunehmen.
Selbst der Blick war klarer geworden. Als wäre in den toten kalten Körper wieder so etwas wie eine menschliche Seele hingeraten, um ihn zu dem zu machen, was er einmal gewesen war.
Das stimmte nicht.
Er war kein Mensch.
Er war auch kein normaler Zombie wie wir diese Gestalten kannten. Er war etwas ganz anderes, und das bewies er uns, als er seinen Mund weit öffnete.
Jetzt sahen wir seine Zähne.
Zwei davon waren länger als die anderen und auch spitzer.
Wir hatten es mit einem Vampir zu tun!
***
Das war natürlich eine Überraschung. Ein tiefgefrorener Vampir, der dabei war, allmählich aufzutauen. Wenn das kein Überraschung war, und zwar für uns beide!
»Sag was, John!«
»Nein, nein, lass mal. Ich weiß auch keine Lösung. Vielleicht sollten wir Justine Cavallo befragen.«
»Erst später.«
»Stimmt auch.«
Der Blutsauger war tatsächlich zur Hälfte aufgetaut, und deshalb konnte er sich noch bewegen. Zwar nicht so geschmeidig, wie man es von ihm erwartet hätte, aber es war zu merken, dass seine Instinkte wieder erwacht waren. Das bedeutete nur eines.
Gier nach Blut!
Er brauchte es. Er hatte lange genug darben müssen. Jetzt, wo er sich wie wir halbwegs bewegen konnte, wollte er diesen Hunger natürlich stillen. Es würde für ihn kein großes Kunststück sein, denn seine Nahrung stand beinahe griffbereit vor ihm.
»Reden werden wir mit ihm wohl nicht können«, meinte Suko.
»Bleibt die Frage, wer ihn nimmt.«
»Ich nehme das Kreuz.«
»Okay, das gibt weniger Aufsehen.«
Der fast aufgetaute Blutsauger stemmte sich am Rand der Truhe ab, damit er den nötigen Halt besaß, um sein Bein heben zu können.
Das tat er recht langsam, aber er bekam es in die Höhe und schlug seine Hacke auf den Truhenrand.
Für einen Moment verharrte er in dieser Haltung. Dann rutschte er weiter, drückte sich noch vor und stand mit dem linken Bein ebenfalls auf dem Rand. Er musste sich ducken, um nicht mit dem Kopf gegen das Dach zu stoßen, aber wir sahen jetzt, dass sich seine Augen bewegten und er uns fixierte.
Plötzlich stieß er sich ab!
Für einen Moment hatte es den Anschein, als würde er auf dem Rand noch wegrutschen, aber auch das bekam er in den Griff, und so hatte er sich sein erstes Ziel ausgesucht.
Er flog auf mich zu.
Suko huschte zur Seite. Ich tat es ebenfalls, und der
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