1369 - Eine grausame Wahrheit
sie den Eindruck, als würde sich die normale Welt vor ihr öffnen oder zurücktreten, um sie mitzureißen oder woanders hin zu platzieren. Telekinese, Teleportation – egal wie man das Phänomen nannte, Glenda war in diesem schrecklichen Zauber hineingeraten und befand sich dann an einem völlig anderen Ort. Wir hatten es erlebt. Sie hatte uns nach dem Erscheinen vor einem alten Haus angerufen, und in diesem Haus wäre ein grausames Verbrechen geschehen, wenn es uns nicht gelungen wäre, einzugreifen. So hatten wir eine Familie gerettet und Terroristen ausgeschaltet. Natürlich ein Grund zum Jubeln, wenn alles normal verlaufen wäre. Das war es nicht, denn Glenda hatte selbst nichts dazugetan. Sie war also nicht in der Lage dieses Phänomen zu lenken und unabhängig von diesem verdammten Serum zu werden, das durch ihre Blutbahn kroch. Natürlich hatte sie sich einer Blutanalyse unterzogen. Sie war in ihrem Fall negativ verlaufen. Man hatte nichts gefunden. Ihr Blut war völlig normal. Es gab also keinen Grund, ein Gegenmittel zu spritzen, wobei wir nicht mal wussten, ob so was überhaupt existierte. Derjenige, der uns Auskunft hätte geben können, lebte nicht mehr. Saladin hatte Dr. Newton ermordet und das übrig gebliebene Serum mitgenommen, was natürlich eine weitere Gefahr bedeutete, denn der Hypnotiseur war mal wieder verschwunden. Ich ging davon von aus, das er Glenda zu seinem Werkzeug hatte machen wollen. Gelungen war ihm das nicht, weil das Serum bei ihr nicht die Folgen zeigte, die er erwartet hatte. Glenda war nicht zu einer Person geworden, die das Böse wollte und in seinem Sinne handelte. Bei ihr war das glatte Gegenteil eingetreten.
Durch ihre besondere Begabung gehörte sie plötzlich zu den Menschen, die anderen, die sich in Gefahr befanden, helfen konnten. So hundertprozentig wusste ich das nicht, aber mein Gefühl trog mich selten. Wenn das so zutraf, war es wichtig, das Glenda sich dieser neuen Aufgabe stellte, und da war der Blick in ihre neue Zukunft nicht mal so schlecht. Nur musste sie das erst verinnerlichen, aber so weit wollte ich noch nicht denken. Wichtiger war das Ergebnis der Untersuchung, auf das ich wartete. Es dauerte schon recht lange, was mich ein wenig nervös machte. So gelang es mir kaum, mich auf die Artikel zu konzentrieren, die ich lesen wollte. Meine Gedanken irrten immer wieder ab, und ich ertappte mich dabei, dass ich feuchte Handflächen bekam. Ich wünschte mir das Dr. Newman nichts Negatives bei ihr feststellte, denn das hätte fatal enden können. So etwas wünschte sich Glenda wirklich nicht. Vor das große Fenster war ein Rollo gezogen worden. Es bestand aus Lamellen, die einen großen Teil der Sonnenstrahlen abhielten. Was an Licht hineinfiel, breitete sich auf dem Boden wie ein schräges Gitter aus, gespickt mit hellen und dunklen Streifen. Aufgrund der schalldicht schließenden Türen drangen keine fremden Geräusche an meine Ohren. Weder aus dem Vor- noch Behandlungszimmer, doch die Stille machte meine Warterei nicht angenehmer. Da nahm meine Nervosität schon zu, und ich ging auf und ab, wobei ich ein Glas Mineralwasser leerte, das ich zuvor aus einer kleinen Flasche gefüllt hatte. Die Motive an den Wänden sollten beruhigen. Sie zeigten Landschaften, für die der Künstler weiche Pastellfarben genommen hatte, ohne allerdings auf den Glanz der Sonnenstrahlen zu verzichten. Die Werte sollten den Betrachter einen gewissen Lebensmut vermitteln und ihn auf keinen Fall traurig stimmen. Zum wiederholten Male schaute ich mir ein Bild an, das mir besonders gut gefiel. Die Strahlen wurden durch das Geäst der Bäumen gefiltert und legten trotzdem noch einen Schleier aus kleinen Punkten über das Wasser. An einer Biegung des Flusses war ein alter Kahn zu sehen, in dem zwei Männer saßen und sich ausruhten. Dafür hatten sie den Kahn zur Hälfte auf eine Sandbank geschoben. Dieser gemalte Frieden gefiel mir auch deshalb, weil mein Leben hektisch genug ablief, und wohl in jedem Menschen lag tief in seinem Innern die Suche nach Sehnsucht und nach Frieden, der er sich voll und ganz hingeben konnte. Dass sich hinter mir die Tür geöffnet hatte, war von mir nicht bemerkt worden. Ich zuckte nur leicht zusammen, weil mich die Stimme der schönen Eurasierin mitten in meiner Gedankenwelt erwischte. »Mr. Sinclair…«
»Ja.« Ich federte herum.
»Sie können jetzt kommen. Miss Perkins und der Doktor erwarten Sie.«
»Gut, danke.« Ich hatte den Adrenalinstoß nicht
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