1375 - Wächterin der Toten
seines Vaters oder seines Paten zu haben, denn die hätten sich von der Gestalt sicherlich nicht so beeinflussen lassen.
Schon mit dem ersten Blick hatte er erkannt, dass es sich bei ihr um keinen Menschen handelte. Da gab es keinen festen Körper. Das Wesen sah aus, als wäre es in den weichen Dunst hineingemalt worden.
Es war für ihn auch nicht zu erkennen, um wen es sich handelte.
Clara hatte von ihrem Schutzengel gesprochen und ihn quasi als ihr Ebenbild beschrieben.
Aber traf das zu?
So sehr sich Johnny auch anstrengte, es war ihm nicht möglich, in diesem fremden Wesen ein Ebenbild seiner Freundin zu erkennen.
Es sah anders aus, falls man überhaupt von einem Aussehen sprechen konnte, was innerhalb des Dunstes nur schwer nachvollziehbar war.
Die Gestalt war hell, sonst hätte sie sich nicht vor dem Dunst abheben können. Sie besaß einen Körper und auch einen Kopf, doch beides hob sich kaum voneinander ab. Da liefen beide Teile praktisch ineinander über. Trotzdem besaß die Erscheinung Figur, und es war die Figur eines Menschen.
Ihm stockte der Atem. Johnny tat nichts mehr. Er fühlte sich als Mensch, dem das Leben genommen worden war. So starr wie er konnte auch eine Leiche sein.
Erst als eine gewisse Zeitspanne verstrichen war und er auch nicht angegriffen worden war, ging es ihm wieder besser. Da kehrten seine Gedanken zurück. Da schaffte er es auch, wieder eigene Überlegungen anzustellen, und so floss eine schlichte Frage aus seinem Mund.
»Wer bist du…?«
Eigentlich hatte er nicht mit einer Antwort gerechnet. Sie wurde ihm trotzdem gegeben, und sie enthielt wieder so etwas wie eine Selbstanklage.
»Ich habe versagt. Ich habe es nicht mehr geschafft. Ich bin zu schwach geworden…«
»Als Engel?«
Lachte sein Gegenüber? Lachte es nicht?
Johnny konzentrierte sich auf das Geschehen und merkte sehr deutlich, dass sich die Erscheinung vor ihm bewegte. Sie schwang sofort auf ihn zu.
Kühlte die Luft tatsächlich vor ihm ab? War das schon der kalte Hauch aus dem Totenreich, der ihn jetzt streifte?
Johnny führte seinen Überlegungen nicht zu Ende, weil er optisch abgelenkt wurde. Der Geist war tatsächlich näher an ihn herangekommen, und so erkannte er den oberen Teil der Gestalt viel deutlicher. Da fiel ihm das Gesicht auf.
Verrückt, aber es stimmte. Das Gesicht bekam eine Form und auch einen Ausdruck.
Er sah die bleichen Haare, eine bleiche Haut, selbst die Augen erlebte er wie zwei dunkle Kreise.
Das Gleiche wie bei Clara!
War sie das? War es ihr Schutzengel? War es ihr Geist oder ihr Zweitkörper, der sich vom ersten abgelöst hatte?
Da rasten mehrere Möglichkeiten durch seinen Kopf, nur konnte er sich für keine entscheiden.
An der rechten Seite der Gestalt bewegte sich etwas. Es war ein Arm, der angehoben wurde und mit einer sehr schwachen Geste auf ihn wies. Er hörte wieder die Stimme.
»Pass auf Clara auf. Gib auf sie Acht. Lass sie nicht aus den Augen. Sie ist ein so gutes Mädchen und zu schade für das kalte Reich des Todes. Ich habe es versucht, aber ich habe versagt…«
»Und wer bist du?«
Johnny hatte die Frage vergeblich gestellt. Er erhielt keine Antwort. Die Gestalt zog sich zurück, und abermals war kein Laut zu hören. Hier auf dem kleinen Friedhof lief alles lautlos ab, damit die Einsamkeit nicht gestört wurde.
Als Letztes löste sich das Gesicht auf. Er sah es so, als würde Glas lautlos zerbrechen, um das Gesicht nie mehr wieder neu erscheinen zu lassen.
Er wusste nicht, ob er sich wünschen sollte, dass die Gestalt wieder zurückkehrte. Vielleicht nicht, unter Umständen doch, wenn sie ihm mehr gesagt hätte.
Für ihn war es ein Durcheinander, in dem er sich nicht mehr zurechtfand. Aber er hatte nicht vergessen, was die Erscheinung ihm aufgetragen hatte. Er sollte und musste sich um Clara kümmern. Die andere Seite hatte versagt.
Leider wusste er nicht, worin dieses Versagen bestand. Darüber hätte er gern mehr erfahren, aber das war nicht möglich. Sie hatte sich zurückzogen, und wann sie wieder erscheinen würde und ob das überhaupt passierte, das würde sie allein bestimmen.
Wenn nicht, dann trug er wirklich allein die Verantwortung Clara Lintock gegenüber.
Wie konnte er sie beschützen? Und gegen wen sollte er sie beschützen? Feinde hatte er bisher nicht zu Gesicht bekommen, aber er ging auch davon aus, dass ihm die Geistererscheinung keinen Bären aufgebunden hatte. Es musste etwas geben. Etwas war freigekommen, und sie hatte es nicht
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