141 - Das trockene Meer
unaussprechliche Dinge antaten.
Die mythischen Lebewesen und Raubtiere schreckten sie nicht, denn Urla war hart gesotten und konnte mit dem Schwert umgehen. Eins jedoch setzte ihren Nerven zu: das Gefühl, verfolgt zu werden.
Über den Baumwipfeln glaubte sie hin und wieder ein Fauchen zu hören. Später schienen in ihrer Umgebung schattenhafte Gestalten durchs Dickicht zu huschen, und sie glaubte wispernde Stimmen zu hören.
Urla führte ihr Murometz seit geraumer Zeit am Zügel, denn der Wald war hier so dicht und die Baumäste hingen so niedrig, dass sie sich beim Reiten ständig den Kopf anstieß. Je weiter sie in den Wald vordrang, umso mehr fühlte sich von ihren Sinnen genarrt: Einmal, als der Mondschein die Welt erhellte, glaubte sie rechterhand ein Murometz durch den Wald tappen zu sehen, auf dem ein Mann mit einem völlig schwarzen Gesicht saß.
Urla blieb stehen, hielt ihrem Reittier die Nüstern zu, damit es sie nicht durch ein Schnauben verriet, und lauschte dem Pochen ihres Herzens. Der schwarze Reiter verschwand. Dafür hörte sie eine halbe Stunde später, als der Morgen graute, den dumpfen Hufschlag mehrerer Murometze, die hinter ihr waren.
Zu allem Übel trat sie dann auf etwas und hörte ein Surren.
Der Zügel entglitt ihrer Hand. Urla fühlte sich in die Luft gehoben, vernahm ein irgendwie hämisch klingendes Twäng und fand sich kurz darauf zwei Meter über dem Boden in einem dichtmaschigen Netz wieder. Es war an einem Ast befestigt. Ihr Murometz röhrte erschreckt und preschte, als sei es persönlich angegriffen worden, von dannen.
Mist! Urla saß hilflos in einer Falle, die irgendwelche einheimischen Jäger angelegt hatten. Dass ihr Reittier feige geflohen war, versetzte sie in Wut. Doch noch wütender wurde sie, als sie den Versuch machte, an ihr Schwert zu gelangen, und feststellen musste, dass das Netz zu eng war, um es aus der Scheide zu ziehen.
Schließlich geschah etwas, das ihren Zorn zur Weißglut steigerte: Vor ihr teilten sich die Büsche, und vier dunkle, wenig Vertrauen erweckende Gestalten, die Reittiere mit sich führten, kamen auf sie zu.
Inzwischen war es hell genug, um zu erkennen, dass der Anführer des Quartetts Ygoor Saljakin war, der nichtsnutzige Neffe der Gnädigen. Auch die anderen Figuren waren ihr bekannt: Hafenratten aus Tscherskij. Männer von üblem Ruf, die vermutlich der Straßenräuberei nachgingen.
»Na, was haben wir denn da?«, rief ein Kerl, von dem Urla wusste, dass er Wadim hieß. »Eine Jungfer von ansehnlicher Gestalt!« Er schnalzte lüstern mit der Zunge.
»Ich finde sie etwas mager«, sagte ein anderer.
»Sie muss ein Gastgeschenk der Einheimischen sein«, sagte der dritte von Wadims Kumpanen und lachte belustigt. »Was für eine hübsche Tradition!«
Urla schmorte vor sich hin und erdolchte Ygoor mit bösen Blicken. Dass er sie nicht anschaute, bewies seine Feigheit.
Vermutlich hatte er sich der Unterstützung dieser Banditen versichert, weil er sich nicht allein in die Wälder traute.
»Wie schön, dass wir uns hier wieder begegnen«, sagte Wadim und zückte sein Schwert. »In der Einsamkeit, wo niemand sieht, was wir mit dir machen werden.« Er kicherte boshaft. Seine Komplizen gackerten. Ygoor erbleichte.
Urla ahnte, wen sie vor sich hatte. Es mussten die Räuber sein, die Black überfallen hatten. Und sie hatte einen der ihren erledigt… So ein Mist! Vermutlich wollten sich die Lumpen jetzt an ihr rächen.
Urla wandte sich an den Neffen der Gnädigen. »Lässt du etwa zu, dass diese Kerle sich über eine wehrlose Frau hermachen?«
»Glaubst du, dieser Tränensack hätte hier was zu melden?«
Wadim lachte erheitert. Seine Freunde grinsten. Ygoor hob hilflos die Achseln.
Wadim schwang sich auf sein Murometz und lenkte es an Urla heran. Als er auf ihrer Höhe war, wehte ihr der Mief seines ungewaschenen Leibes entgegen, und sie musste sich zusammenreißen, um ihm nicht ins Gesicht zu spucken.
Wadims Klinge machte eine schnelle Bewegung und durchtrennte das Seil, an dem das Netz baumelte.
Klatsch! Urla stöhnte auf, als sie am Boden lag. Wadims Kumpane warfen sich mit gezückten Messern auf sie und zerschnitten das Netz. Dann rissen sie Urla an den Armen hoch und durchwühlten mit schmutzigen Händen ihre Taschen und ihre Kleidung, wobei sie sich vor Lachen ausschütteten. Ygoor schnallte Urlas Gurt ab und band sich ihr Schwert um den Bauch. Urla empfand die frechen Griffe als entwürdigend, und als sie fragen wollte, wonach sie
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