1425 - Medusas Vermächtnis
gesehen, auf dem die Schlangen wuchsen, und sofort schoss ihm ein Begriff durch den Kopf.
Medusa!
Er bekam eine Gänsehaut. Die alten Griechen hatten die Gefährlichste der Gorgonen das Ungeheuer genannt. Er kannte auch Bilder von ihr. Er hatte Plastiken gesehen, die von Künstlern stammten, die sich mit der Medusensage beschäftigt hatten.
Auch Cornelia?
Tim war gespannt, wie sie die Frau mit dem Schlangenhaupt sah.
Ob normal oder verfremdet. Schließlich beherrschte sie beide Malstile. Das sah nicht verfremdet aus, aber Tim wollte es ganz genau wissen. Dazu musste er das Gesicht sehen.
So zupfte er die Decke noch weiter weg und legte das Gesicht der Medusa frei.
Atemlos kniete er vor dem Bild. Das Motiv schockte ihn. Diese Person sah so verdammt echt aus. Man konnte das Gefühl haben, sie anfassen zu müssen, wobei man dann Haut unter den Fingern spüren würde und keine Leinwand.
Tim Ferber beugte sich noch tiefer. Ihn interessierte jedes Detail. Er wollte alles…
Da war was!
Die Augen, die so hell und kalt waren, bewegten sich plötzlich. Er hätte nicht gedacht, dass dieser gemalte Blick sich verändern könnte, aber genau das war hier der Fall.
Die Augen schauten so hart und gnadenlos, dass ihm der Begriff Medusenblick in den Sinn kam.
Angst stieg in ihm hoch. Er wollte weg und musste dabei seinen Körper drehen.
Es ging nicht!
Etwas war anders geworden. Er konnte die Beine nicht bewegen, weil sie plötzlich so schwer geworden waren. Wie zwei Bleistangen hingen sie von seinen Hüften herab.
Wer sie ansieht, wird zu Stein!
Auch dieses schreckliche Orakel war ihm bekannt. Jetzt erlebte er es am eigenen Körper.
Da kroch etwas in ihm hoch. Es war auch nicht zu stoppen, denn es bewegte sich immer weiter. Von seinem tauben Fuß her über die Knie hinweg. Es fühlte sich nicht mal schlimm an. Er empfand es mehr als ein Kribbeln, doch die Stellen, die bereits von diesem Gefühl erfasst worden waren, ließen sich nicht mehr bewegen.
Taub, steif, vorbei…
Tim Ferber fing an, heftig zu atmen. Eine Panikattacke überfiel ihn. In seiner oberen Körperhälfte schien das Blut zu kochen.
Die Angst hatte sich wie ein Monster mit scharfen Krallen in seiner Kehle festgesetzt. Schon jetzt traten seine weit aufgerissenen Augen beinahe aus den Höhlen.
Noch konnte er die Arme bewegen. Er wollte sich in die Höhe stemmen, was ihm nicht mehr gelang, denn die untere Körperhälfte war bereits versteinert.
Gnadenlos schlug das Schicksal zu. Die Geräusche, die Tim Ferber von sich gab, hatten mit einem normalen Atmen nichts mehr zu tun.
Es war das hektische Schnappen eines Erstickenden nach Luft.
Er fiel auf die Seite. Er konnte nicht mal mehr schreien, nur keuchen. Mit beiden Händen schlug er auf den Boden. Noch schaffte er es, sie anzuheben, aber auch das würde bald vorbei sein. Die Versteinerung kroch weiter. Sie setzte sich nach oben hin fort. Dann wurden ihm auch die Hände schwer.
Den rechten Arm hielt er angewinkelt. Tim Ferber lag auf der Seite. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Finger, die gespreizt waren.
Er wollte sie bewegen, um eine Faust zu bilden. Es wäre ein kleiner Erfolg für Tim gewesen.
Doch so sehr er sich auch konzentrierte und anstrengte, die Finger blieben starr. Es gab auch kein Gefühl mehr in ihnen. Sie standen ab, leicht gekrümmt und starr.
Die innere Versteinerung setzte sich fort. Sie durchlief seine Brust.
Es würde nur noch kurze Zeit dauern, bis sie das Herz erreicht hatte, das immer noch heftig schlug.
Der Kopf des Studenten war hochrot angelaufen.
Und dann setzt sein Herzschlag aus. Zunächst bekam er das rasende Hämmern mit, dann einen Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Danach war es vorbei.
Sein Kopf rollte wieder in die Rücklage. Starre Augen blickten gegen die Decke. Dass sich die Versteinerung fortsetzte, bekam Tim Ferber schon nicht mehr mit.
Wer sie ansieht, ist verloren!
Dieses Orakel hatte sich bei dem Studenten auf grauenvolle Art und Weise erfüllt…
***
Michael Schultz ahnte nicht, welches Drama sich an seinem Stand abspielte. Hätte er auch nur einen vagen Verdacht gehabt, wie sehr die Neugier auf das dritte Bild der Künstlerin Cornelia in Tim Ferber gärte, wäre er an seinem Stand geblieben.
Doch so traf er die Kolleginnen und Kollegen, die allesamt in guter Stimmung waren, und das nicht nur wegen der Vernissage. Sie erhofften sich in den nächsten Tagen gute Geschäfte, denn die Leute waren noch immer sehr
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