1425 - Medusas Vermächtnis
sein Chef erst im letzten Augenblick zurückkehren würde. Er kannte einfach zu viele Galeristen, die er überall an den Essständen treffen würde.
Tim gefielen nicht alle Bilder, die an den Wänden hingen. Zwei stachen jedoch hervor. Es waren die Arbeiten einer Künstlerin mit dem Namen Cornelia. Sie hatte sich für Schlangenmotive entschieden. Dabei zeigten die beiden Exponate unterschiedliche Stilrichtungen.
Das eine war sehr realistisch gemalt, eigentlich ein Stillleben. Eine Schlange hatte sich inmitten einer Wiese zusammengerollt und nur den Kopf angehoben. Dabei war ihr Maul weit geöffnet, und in ihm klemmte ein junges Kaninchen. Das Bild war so detailgetreu gemalt worden, dass der Betrachter die Todesangst des Opfers spüren konnte, denn gestorben war das Tier noch nicht.
Sein Fall war das Bild nicht.
Dafür mehr das zweite. Abstrakt. Da war die Schlange mehr eckig gemalt und knallrot. Um sie herum formierten sich Dreiecke. Fast schon kleine Pyramiden. Sehr gläsern und durchsichtig. Nur an den Rändern dunkel abgesetzt.
Er war gespannt, ob die beiden Exponate Käufer finden würden.
Es gab noch ein drittes Bild!
Nur war das nicht aufgehängt worden. Es stand wohl verpackt in der Kammer. Es sollte ein ganz besonderes Bild sein, das hatte Tims Chef einige Male erwähnt und den jungen Mann damit natürlich neugierig gemacht. Genaueres hatte er jedoch nicht erwähnt, und so war die Spannung bei Tim immer größer geworden. Nun, da sein Chef den Stand verlassen hatte, bot sich ihm eine Gelegenheit, einen Blick auf das Bild zu werfen.
Die Tür der Kammer war abgeschlossen.
Das störte Tim nicht, denn es gab noch einen zweiten Schlüssel.
Sein Chef ging immer auf Nummer Sicher. Der Schlüssel befand sich in der Schublade eines kleinen Tisches, auf dem die Kasse stand. Es war eine Kassette, die es schon vor zweihundert Jahren gegeben hatte, und sie war auch mehr als Dekoration gedacht.
Tim fasste einen Entschluss. Er wollte sich das Bild ansehen. Zumindest nur einen kurzen Blick darauf werden. Das konnte nicht schaden, und Schultz würde nichts davon erfahren.
Zunächst schaute er nach, ob sich sein Chef nicht noch irgendwo herumtrieb. Das war nicht der Fall. Er sah wohl andere Galeristen, aber nicht seinen Boss.
Schnell hatte er den Tisch erreicht und zog die Lade auf. Papiere lagen darin, aber auch Stempel und Rechnungsblöcke.
Wo war der Schlüssel?
Tim schob seine Hände unter die Papiere. Er tastete sich vor und hatte Glück. Plötzlich spürte er das kalte Metall an seinen Fingerspitzen. Ein Lächeln huschte über seine Lippen, als er den blinkenden Gegenstand an sich nahm.
Ein schneller Blick, die Luft war rein, und wenige Augenblicke später hatte er die Tür aufgeschlossen.
Er schob sich in den Dark Room hinein, der nicht mehr dunkel blieb, weil er das Licht einschaltete. Den schmalen Koffer sah er sofort. Er lehnte neben dem Kühlschrank an der Wand. Tim merkte sich den Standort genau, damit er die Tasche später wieder genauso hinstellen konnte.
Danach machte er sich an die Arbeit. Er wollte das Bild nicht mal herausziehen, sondern einfach nur einen Blick darauf werfen. Die Tür hatte er hinter sich geschlossen. Schweiß lag auf seiner Oberlippe. Die Hände zitterten leicht, als er den Reißverschluss öffnete. Etwas Verbotenes tat er nicht, aber Nervosität war schon vorhanden.
Nicht grundlos machte der Galerist ein so großes Geheimnis um das Bild.
Sehr bald hatte er die Tasche offen.
Er klappte sie auf – und war enttäuscht, das Bild nicht zu sehen, weil es durch eine Decke verhängt war.
Tim legte eine Pause ein. Er dachte über sein weiteres Vorgehen nach. Sogar ein Rückzug schoss ihm durch den Kopf, dann aber blieb er bei seinem Plan.
Auch hier merkte er sich genau, wie die Decke das Bild umgab. Er musste sie nur an den unteren Ecken greifen und hochziehen.
Kein Problem. Die Tasche lag offen vor ihm. Das Bild stand noch, und so hob er die Decke langsam an, sodass immer mehr von der Leinwand vom Vorschein kam.
Er sah eine Stirn, Haare und…
Nein, das waren keine Haare. Sie hatten nur im ersten Moment so ausgesehen. Was da auf dem Kopf wuchs, waren Schlangen. Fingerdicke Schlangen mit Köpfen, in denen die Mäuler offen standen.
Tim Ferber war enttäuscht und zugleich angetan. Sein Herz schlug so wild wie lange nicht mehr. Klar, diese Künstlerin liebte eben Schlangen. Aber das Bild hier unterschied sich doch von den anderen, die er von ihr kannte. Er hatte den Kopf
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