143 - Die Höllenfahrt des Geisterzugs
nicht erinnerte, deren Sinn sie nicht einmal kannte, kamen flüssig über ihre Lippen. Sie waren das Erbe einer dunklen Vergangenheit.
Durchscheinenden Nebelfetzen gleich, lösten die Geister sich aus den Kristalladern, stürzten sich heulend und kreischend auf den Mann, der von Coco abließ und das Eisen gegen die Angreifer schwang. Doch die Glut konnte den gestaltlosen Schemen nichts anhaben, drang durch sie hindurch, ohne sie zu gefährden. Wie Furien stürzten sie sich auf ihn.
Sie saugten ihm das Leben aus, um selbst wieder Gestalt anzunehmen. Ein lachendes Mädchengesicht entstand scheinbar aus dem Nichts heraus - aber nur für Sekundenbruchteile. Burian Wagner verfiel zusehends, alterte in Gedankenschnelle. Bis er zusammenbrach und den Boden berührte, besaß er bereits das Aussehen eines Hundertjährigen.
Aber auch die Geister, denen Coco die Rückkehr in die Kristalle verwehrte, wurden schwächer. Zuckend umtaumelten sie den sterbenden Greis und verwehten endlich.
Ein letzter, diesmal freudiger Gedanke traf die Hexe. Dann war nichts mehr.
„Ihr seid erlöst", murmelte sie, „doch ich bin nach wie vor eine Gefangene."
Stunden vergingen. Verzweifelt bemühte Coco sich, wenigstens eine Hand freizubekommen. Tief schnitten die Stricke ins Fleisch ein, und allmählich wurden nicht nur ihre Hände taub, sondern breitete sich das Prickeln in den Adern auch über ihre Arme und den Oberkörper aus. Coco gab sich Mühe, tief und gleichmäßig zu atmen, um das Gefühl der Übelkeit zu vertreiben. Es wollte ihr nicht gelingen.
Unvermittelt gab der Hanf nach. Mit einem letzten kraftvollen Ruck bekam sie eine Hand frei. Der Rest war trotz des verrücktspielenden Kreislaufs keine Schwierigkeit mehr. Als sie jedoch von der Streckbank aufstand, knickten ihre Beine ein.
Mühsam, Schritt für Schritt, tastete sie sich vorwärts und nahm das rostige Schwert wieder an sich. Daß der Werwolf, den sie getötet hatte, so plötzlich in der Höhle erschienen war, konnte nur bedeuten, daß diese noch einen anderen Zugang besaß. Einen, der vermutlich leichter zu begehen war als der von der Hütte wegführende Stollen.
Der falsche Burian Wagner war tot. Coco erschrak, als sie ihn herumdrehte und in sein unwahrscheinlich gealtertes Gesicht blickte. Es begann langsam zu zerfallen.
Sie machte sich auf die Suche nach einem geheimen Zugang. Aber erst als sie die unmittelbar am Fels stehende eiserne Jungfrau öffnete und deren Rückwand abtastete, glitt die verborgene Tür auf, gab knirschend einen Gang frei, der durch glimmende Öllampen spärlich erhellt wurde.
Einen besseren Beweis, daß die Folterkammer noch hin und wieder benutzt wurde, konnte Coco kaum erhalten. Wahrscheinlich hatten die Werwölfe den Zugang irgendwann entdeckt.
Sie hielt das Schwert fester.
Der Gang verlief nahezu eben. Nach einer sanften Biegung zeichnete sich voraus ein Fleck fahler Helligkeit ab.
Lediglich dichtes Buschwerk schützte die Höhlenöffnung vor zufälliger Entdeckung. Nachdem Coco sich durch das Dickicht von Ästen und Schlingpflanzen hindurchgezwängt hatte, sah sie schräg unter sich die alte Hütte liegen. Die eben erst über den Bergen aufsteigende Morgensonne warf lange Schatten.
Ein kalter Wind, der für die Pyrenäen womöglich einen frühen Winter verhieß, blies von Norden her. Coco fröstelte und stellte den Kragen ihrer Bluse auf. Ein wenig der Kälte steckte jedoch auch in ihr und war auf die überstandenen Ereignisse zurückzuführen.
„Du hast einen Fehler begangen, Luguri", murmelte sie leise vor sich hin.
Der Wind trug ihr das Blöken der Schafe zu. Hinter der Hütte bellte ein Hund, doch dieses Bellen klang weit weniger gefährlich als während der Nacht.
Coco hatte ohnehin vorgehabt, der Hütte einen zweiten Besuch abzustatten. Sie war kaum erstaunt, an der Kette einen jungen Schäferhund vorzufinden. Das Tier begann wie verrückt zu winseln, als es sie erblickte.
Die Kette hing noch immer mit zwei Gliedern im Karabinerhaken. Kein Zweifel, dieser Hund war mit der blutrünstigen Bestie identisch, die sie angefallen hatte. Coco zögerte nur kurz, dann riß sie das Schwert hoch und tötete die dämonische Kreatur.
Die Haustür stand weit offen; in den beiden Zimmern herrschte eine fürchterliche Unordnung. Nachdem die Werwölfe die Fenster eingeschlagen und die Barrikaden umgeworfen hatten, hatten sie ihre Zerstörungswut offensichtlich an allem Erreichbaren ausgelassen. Im Schutz der Nacht mußte das Rudel dann
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