1453 - Die ruhelosen Engel
Professors wich er aus. »Es war in der vergangenen Nacht«, begann er mit leiser Stimme. »Ich machte meine letzte Runde und befand mich im Lesesaal, als es passierte, und ich kann es wirklich nicht vergessen…«
In den nächsten Minuten ließen wir ihn reden. Er sprach nicht flüssig, stockte immer wieder und versuchte, seine Gedanken in entsprechende Worte zu fassen.
Es war nicht viel, was der Mann erlebt hatte. Es hatte ihn allerdings erschüttert, und das kam auch zum Ausdruck, denn er sprach manchmal wirre Sätze. Er malte bestimmte Szenen mit den Händen nach und kam wieder auf die roten Augen zu sprechen.
»Sie waren für mich das Schlimmste. Sie wirkten so fremd. Das waren keine Pupillen mehr, sondern Flecken.«
»Okay, das haben wir verstanden«, sprach ich mit ruhiger Stimme.
»Gab es denn einen Kontakt zwischen Ihnen und den Zurückgekehrten?« Den Begriff »Toten« vermied ich.
»Den gab es. Sie haben zu mir gesprochen.«
»Und?«
Der Hausmeister senkte den Kopf. Sehr leise sprach er weiter. »Sie erklärten, dass sie bei den Engeln gewesen waren. Ja, sie haben die Engel besucht und sind nun zurückgekehrt.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Das genau haben sie gesagt.« Mit einer schwachen Handbewegung wies er zum Fenster. »Dann sind sie verschwunden. Aber fragen Sie mich nicht, wohin sie gingen.«
Ich hielt zunächst meinen Mund. Das Gleiche galt für Suko. Professor Hilton sagte ebenfalls nichts, doch er schüttelte heftig den Kopf und konnte nach einer Weile nicht mehr an sich halten.
»Nein, das glaube ich nicht. Das ist einfach unmöglich. Oder sehen Sie das anders?«
Ich nickte. »Ja, das sehen wir anders. Ob sie es glauben oder nicht, Professor.«
»Aber so etwas gibt es nicht!«
»Sollte man meinen. Ich bin allerdings anderer Ansicht. So etwas gibt es schon.«
»Dann wissen Sie mehr als ich!«
»Das ist gut möglich«, sagte Suko. »Sie müssen davon ausgeben, dass wir nicht zufällig hier sind.«
»Tatsächlich?«
Ich wandte mich an den Dekan. »Ja, mein Kollege Suko und ich beschäftigen uns seit Jahren mit Vorgängen, die den Rahmen des Normalen verlassen.«
Hilton war überfordert. »Wie soll ich das denn genau verstehen?«
»Sagen wir es mal so: Wir gehen gewissen Phänomenen nach, für die es keine rationale Erklärung gibt.«
»Aha.« In seiner Antwort klang der Spott durch. »Aber eine irrationale.«
»Wenn Sie so wollen, ja.«
Er schüttelte den Kopf, weil er noch immer nicht überzeugt war.
Er war der Wissenschaftler, der sich nur auf das verließ, was durch seinen Verstand zu begreifen war. Mit der rechten Hand deutete er auf den Hausmeister.
»Bitte, ich will ihm ja nichts. Ich kenne Mr Braddock seit Jahren, und ich weiß wirklich, was ich vom ihm zu halten habe. Aber so etwas ist nicht zu fassen. Das schlägt dem Fass den Boden aus. Ich will nicht von Altersdemenz sprechen und…«
»Das sollten Sie auch nicht«, mischte sich Suko ein.
»Ach, dann glauben Sie ihm?«
»Wir streiten es zumindest nicht kategorisch ab.«
Hilton schüttelte den Kopf. »Egal, was Sie denken meine Herren. Mich kann man mit solchen Fantastereien nicht überzeugen. Ich glaube Mr Braddock erst, wenn ich einen dieser Studenten vor mir stehen sehe und ihn anfassen kann.« Er winkte ab. »Stellen Sie sich vor, was ich den Eltern sagen soll, wenn die zu mir kommen und mir Fragen stellen. Ich kann doch nicht sagen, dass ihre Söhne und Töchter bei den Engeln waren. Das ist ja Wahnsinn. Die würden mich für einen Idioten halten.«
»Das könnte stimmen. Und deshalb werden wir sehr behutsam vorgehen müssen.«
»Und wie?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Aha. Aber Sie wollen diese Rückkehrer bestimmt auch sehen. Oder irre ich mich?«
»Nein, Sie irren sich nicht. Wir werden uns sogar auf die Suche nach ihnen machen.«
»Dann viel Spaß, meine Herren. Ich würde trotzdem vorschlagen, dass Mr Braddock sich untersuchen lässt.« Er sprach jetzt leise. »Der Mann könnte unter Wahnvorstellungen leiden. Das Verschwinden der Studenten hat uns alle sehr mitgenommen. Manche scheinen es bis zum heutigen Tag noch nicht verkraftet zu haben. Dazu gehört auch Mr Braddock.« Er wandte sich direkt an den Hausmeister.
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber es wäre gut, wenn Sie sich eine Woche Urlaub nehmen, damit Sie den nötigen Abstand bekommen.«
»Er glaubt mir nicht«, flüsterte der Hausmeister.
Es war für uns nicht einfach, die ablehnende Haltung des Dekans
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