1455 - Das Gewissen des Henkers
und blieb so dicht vor den beiden stehen, dass er sie hätte berühren können, was er allerdings nicht tat.
Stattdessen nickte er ihnen zu. Dabei geschah etwas Seltsames. In seinem Gesicht regte sich etwas, das Iris und ihrem Mann nicht entging. Der abwesende und auch irgendwie gnadenlose Ausdruck verschwand aus seinen Zügen. Man konnte nicht behaupten, dass die Mimik etwas Hilfloses ausdrückte, aber weit entfernt war sie davon auch nicht. Selbst der Ausdruck in den Augen veränderte sich, obwohl das Rote darin nicht völlig verschwand.
So wie er sie anschaute, brauchten sie nicht mal Angst vor ihm zu haben. Dennoch waren sie nicht in der Lage, ihre Starre zu überwinden. Sie konnten sich auch keinen Reim aus dem Verhalten des Unheimlichen machen, fühlten sich in der Opferrolle und voll und ganz in der Gewalt dieser Gestalt.
Dann sprach der Henker mit ihnen. Beide rechneten damit, ihr eigenes Todesurteil hören zu müssen, doch sie irrten sich, und so lauschten sie einer Erklärung, die sie nicht begriffen. Trotz der einfachen Worte war dies alles zu hoch für sie.
»Ich habe meine Pflicht getan. Zumindest den ersten Teil. Ich bin unterwegs, um mein Gewissen zu erleichtern, und ich habe es zu einem Drittel geschafft. Ich weiß, dass ich damals ein großes Unrecht begangen habe, aber die Gier nach dem Geld war einfach zu groß. Und so habe ich neben meiner eigentlichen Arbeit weiterhin getötet.«
Es kam Sean Rifkin schon wie ein kleines Wunder vor, dass er seine innere Starre überwand und selbst sprechen konnte.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich will es dir sagen, mein Freund. Du bist ein Rifkin, und ich habe vor vielen Jahren einen Ernest Rifkin ermordet. Er war ein Händler, ein Geschäftsmann, der einem anderen ein Dorn im Auge war und ihm die Kunden wegnahm. Deshalb musste Ernest Rifkin sterben, und ich habe ihn dann geköpft. Ich bekam viel Geld, aber es hat mich nicht glücklich gemacht. Ich war als Henker ein Ausgestoßener. Ich habe gelitten, doch nun bin ich dabei, von diesem Leben wegzukommen. Ich weiß, was ich tun muss. Euch habe ich geholfen. Es gibt andere, bei denen das noch nicht so ist, und genau die werde ich aufsuchen und um Verzeihung bitten. Es kann sein, dass ich auch ihnen helfen muss, und ich werde es dann tun, ansonsten hoffe ich, dass sie mir meine in der Vergangenheit verübte Tat verzeihen werden.«
Das Ehepaar hatte jedes Wort gehört. Es war nur nicht leicht, alles zu begreifen. Auch Sean war nicht mehr in der Lage, eine weitere Frage zu stellen.
Der Henker hatte genug gesagt. Er nickte ihnen noch zu und drehte sich ab. Beide schauten auf seinen Rücken, als er sich der Tür zuwandte. Davor lag noch der tote Rico.
Der Henker blieb für einen Moment stehen, bevor er sich bückte und der Griff des Beils umfasste, das er dann mit einer ruckartigen Bewegung aus dem Körper holte.
Er hielt es so locker in der rechten Hand wie ein Dirigent seinen Stab.
Ein letztes Winken, dann ging er.
Die Rifkins schauten hinter ihm her und konnten sich abermals nur wundern. Der Henker schritt der Tür entgegen und ging hindurch, ohne sie zu öffnen. Sie sahen ihn auch nicht mehr im Freien.
Seine Gestalt hatte sich aufgelöst wie ein Nebelstreif in der Sonne…
***
Iris und Sean Rifkin waren nicht in der Lage, etwas zu sagen. Sie hatten etwas gesehen, das sie nicht begriffen und über das sie auch nicht sprechen konnten.
Die Sprache der Realität aber war grausam genug.
Vor ihnen lagen zwei Tote auf dem Boden des Imbisses. Beide umgebracht durch ein Henkerbeil und von einer unheimlichen Gestalt, die nicht die Spur von Gnade kannte.
Das zu wissen war einfach furchtbar, und noch schlimmer war es für sie gewesen, als Zeugen dabei zu sein. Das wollte ihnen auch jetzt nicht in die Köpfe, als sie erstarrt in ihrem Imbiss standen und ihren eigenen Gedanken nachhingen, wobei sie nicht mal wussten, was sie überhaupt denken sollten. Alles war so anders geworden. So verkehrt, so irreal. Als stünden sie in einer Parallelwelt, die nur eben so aussah wie die ihre.
Iris fand die Sprache als Erste wieder. »Es ist wahr, Sean, es ist tatsächlich wahr. Wir leben noch. Wir sind angeschlagen, aber wir leben. Der Henker hat uns verschont.«
»Ja, er wollte uns um Verzeihung bitten.«
»Für seine Taten.«
»Aber für welche?«
»Du bist ein Rifkin, Sean. Du musst es wissen. Er hatte die Rifkins damit gemeint.«
»Ich weiß aber nichts, obwohl es um meine Familie geht. Das liegt alles zu weit
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