1455 - Das Gewissen des Henkers
die neben einem Fenster die Wand unterbrachen. Da die Türen nicht verschlossen waren, sah ich, dass eine zum Bad führte, in dem es nur eine Dusche und eine Toilette gab. Die zweite Tür ließ einen Blick in eine Schlafkammer zu, in der ein Bett stand. Ob ein Kleiderschrank vorhanden war, sah ich nicht.
Fiona wies auf gelbe Kugeln, die sich als Sitzkissen entpuppten und einen runden Tisch umstanden. Auf ihm stand neben der Flasche Wasser noch ein Glas. Es war auch Platz genug vorhanden, um eine schmale Blumenvase aufstellen zu können.
»Möchten Sie auch einen Schluck Wasser, John?«
»Gern.«
Fiona holte ein Glas von einem schmalen weißen Regal und schenkte mir ein. Ich schaute dabei in ihr ernstes Gesicht und konnte verstehen, dass sie sich Sorgen machte.
Nachdem wir getrunken hatten und Fiona ihre schlammfarbene Hose, die sie zum hellroten Pullover trug, zurechtgezupft hatte, stellte sie die erste Frage.
»Sind Sie denn mit Ihren Ermittlungen weiter gekommen?«
»Leider nicht.«
»Trotz der drei Namen?«
»So ist es.«
Sie dachte einen Moment nach. »Und was haben Sie jetzt vor, John? Glauben Sie, dass ich Ihnen helfen kann?«
»Wer weiß.«
»Sicher sind Sie nicht?«
Ich lächelte schmal. »Was ist schon sicher, Fiona? Aber ich gehe davon aus, dass Sie möglicherweise oder trotz allem in einer bestimmten Beziehung zu Lincoln Lester stehen.«
»Nein. Das heißt, wenn ich von dem Namen ausgehe, dann schon. Ansonsten kann ich mir nicht vorstellen, was den Henker mit mir verbinden sollte. Dass sich unter meinen Ahnen – oder wie man es auch immer nennen mag – ein Henker befindet, hat mir mein Onkel erzählt.«
»Aber der Henker ist eine besondere Person.«
»Sicher.«
»Und erlebt!«
Diese drei Worte ließen sie zusammenzucken. Fiona presste die Lippen aufeinander. Sie strich durch ihr dunkles Haar und schüttelte den Kopf.
»Sie glauben nicht, wie sehr ich mir darüber den Kopf zerbrochen habe, doch mir ist keine Lösung eingefallen. Tut mir Leid, und weil dem so ist, möchte ich alle Schuld von mir weisen und nicht auf meine Kappe nehmen, was immer noch passieren wird.«
»Das brauchen Sie auch nicht, und ich rechne nicht damit, dass Ihnen Lincoln Lester etwas antun wird.«
»Meinen Sie?«
»Ja.«
Gespannt fragte sie: »Was macht Sie denn so sicher?«
»Weil Sie ihm keinen Grund gegeben haben. Sie haben ihm nichts getan. Darüber sollten Sie nachdenken. Aber Sie sind trotzdem wichtig für ihn, denke ich.«
»Darauf kann ich gut und gern verzichten.«
»Sie ja.«
»Ha. Er nicht?«
»So sehe ich das.«
Fiona schaute mich an. »Sie werden lachen, John, aber darauf habe ich mich eingestellt. Wenn er kommt, dann soll er mich in meiner Wohnung finden und nicht irgendwo, wo es Zeugen gibt, die eventuell noch in Mitleidenschaft gezogen werden können.«
»Ich verstehe.«
»Und Sie haben auch so gedacht, John. Sonst wären Sie nicht zu mir gekommen.«
»Im Prinzip stimmt das schon, Fiona. Sie sind praktisch der vierte Name. Ich glaube zudem, dass er die Nachricht für Sie hinterlassen hat, und er wird in Ihnen möglicherweise eine Anlauf stelle haben. Sie tragen seinen Namen. Sie sind ein Nachkomme des Henkers, auch wenn das nicht eben super ist, aber man kann gegen seine Herkunft nichts tun. Deshalb wird er sich irgendwann an Sie wenden.«
»Warum sollte er das tun, John? Meinen Sie im Ernst, dass ich ihm weiterhelfen kann?«
»Das weiß ich nicht. Aber er weiß, dass Sie namentlich die einzige bekannte Verbindung zu ihm sind.«
»Es gibt den Namen noch öfter in meiner Verwandtschaft. Ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich meine Eltern anrufen und sie warnen soll.«
»Nein, lassen Sie das. Ich glaube nicht, dass der Henker sie mit hineinziehen wird. Sie allein sind seine Bezugsperson, Fiona, und niemand anderer.«
Nachdenklich ließ sie sich zurück in die Kugel sinken und trank dabei einen Schluck Wasser. »Was könnte er denn von mir wollen? Haben Sie dazu schon eine Idee?«
»Nicht mehr als Vermutungen.«
»Ich würde sie trotzdem gern hören.«
»Klar. Es ist ganz leicht, finde ich. Er könnte zum Bespiel zu Ihnen kommen, um Ihnen zu erklären, dass er seine Taten vollbracht hat und für immer Ruhe findet, und das in einer Welt, die er sich gewünscht hat. So könnte es aussehen.«
Fiona hatte gut zugehört. Nach einer Weile flüsterte sie, wobei sich bei jedem Wort ihre Gänsehaut verstärkte: »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es eine Gestalt wie ihn
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