1459 - Die Hexe und ihr Henker
und wäre auch noch für einen Moment ins Bad gekommen, um ihr zuzuwinken.
Nein, etwas war anders hier, und sie spürte, wie es in ihrem Innern allmählich kalt wurde, was nicht an der Luft lag. Sie hätte die Tür auch einfach schließen können, doch das kam ihr nicht in den Sinn. Tommys Verschwinden bereitete ihr schon Sorgen.
So öffnete sie die Tür noch weiter. Auch wenn sie nur den dünnen Mantel trug, sie musste einfach nach draußen, nachschauen und ihr Gewissen beruhigen.
Die Terrassenfliesen hatten noch die Kälte der vergangenen Tage gespeichert. Die Sohlen ihrer Pantoffeln waren nicht dick genug, um sie abzuhalten. Sie kümmerte sich nicht darum und ging mit zügigen Schritten auf die Terrasse hinaus.
Weiterhin richtete sie den Blick nach vorn, sah auch jetzt nichts, abgesehen von den Möbeln, die an der rechten Seite unter einer Kunststoffplane standen, und wandte den Kopf nach links. Jetzt überblickte sie die ganze Terrasse.
Laurie zuckte leicht zusammen, als sie die Gestalt sah, die an der linken Seite am Geländer stand und sich dabei weit vorgebeugt hatte, als wollte sie sich jeden Moment in die Tiefe stürzen.
Sie spürte das kalte Gefühl im Nacken. Auch deshalb, weil sich Tommy nicht bewegte. Er schien in seiner vorgebeugten Haltung angeschlagen zu sein, was sich die Frau allerdings nicht vorstellen konnte.
Sie bewegte sich so leise wie möglich auf Tommy zu. Etwa einen halben Schritt hinter ihm blieb sie stehen, atmete noch einmal tief durch und fragte mit halblauter Stimme: »Tommy?«
Er antwortete nicht.
»He, Tommy! Schläfst du?«
So locker die Frage auch geklungen hatte, in ihrem Innern sah es völlig anders aus.
Er blieb still.
Sie überbrückte die kurze Distanz zu ihm und berührte ihn an der rechten Hüfte. Sie spürte etwas Nasses an ihrer Hand und zog sie erschrocken zurück.
Das war kein Wasser, denn als sie die Finger bewegte, fühlte es sich klebrig an.
Klebrig wie – Blut!
Laurie durchfuhr der Schreck wie ein Lanzenstoß. Hätte sie im Nacken Haare gehabt, sie hätten sich sicherlich aufgestellt. So aber hatte sie das Gefühl, dass ihr eine eisige Klaue vom Hals her über den Rücken hinabfahren würde. Eingehüllt in die Dunkelheit des Abends, kam sie sich vor wie auf einem verlorenen Posten. Plötzlich war die Angst da. Aber Laurie war eine starke Frau. Sie kämpfte dagegen an, denn sie wollte immer alles verdammt genau wissen.
So fasste sie Tommy mit beiden Händen an. Sie dachte daran, dass er sich verletzt haben könnte, zog ihn vom Geländer weg und drehte ihn dabei so, dass sie ihm ins Gesicht schauen konnte.
Ihr Schrei gellte über die Brüstung der Terrasse hinweg in die Dunkelheit hinein.
Laurie war nicht mehr fähig, den Körper zu halten, der ihr plötzlich zentnerschwer vorkam. Er rutschte ihr aus den Armen und schlug der Länge nach zu Boden.
Wie eine Statue stand sie mit ausgebreiteten Armen und blutigen Händen vor Tommy und musste erkennen, dass sie auf einen Toten schaute, denn selbst bei diesem Licht waren seine glasigen Augen deutlich zu sehen.
Er war nicht durch einen plötzlichen Herzschlag gestorben, nein, man hatte ihn auf eine grauenvolle Art und Weise umgebracht, denn seine Brust war eine einzige Wunde, aus der kurz vor seinem Tod jede Menge Blut gequollen war.
Laurie konnte nicht mehr sprechen. Ihre Kehle war vor Entsetzen wie zugeschnürt. Sie hatte bisher ein Leben geführt, in dem man sich nach außen hin nicht mit dem Sterben und mit dem Alterbeschäftigte. Dazu zählten auch Verbrechen. Über die las man nur in den Boulevardblättern.
Jetzt sahen die Dinge anders aus.
Tommy lag da und würde sich nie wieder in seinem Leben bewegen. Ein sehr bleiches Gesicht, in dem nicht mal ein Ausdruck des Schmerzes zu lesen war. Der Tod musste ihn völlig überrascht haben.
Aber wer tat so etwas?
Sie war nicht in der Lage, sich eine Antwort zu geben. Sie spürte nur den Schwindel, der sie nicht mehr loslassen wollte, und deshalb fasste sie schnell nach dem Geländer, um Halt zu finden.
Die Frage wiederholte sich. Wer tat so etwas? Und wie war der Mörder auf die Terrasse gelangt?
Sie fand die Antwort darauf nicht. War der Killer heimlich durch die Wohnung geschlichen, als sie sich im Bad befunden hatte? Eine andere Lösung kam ihr nicht in den Sinn, und die jagte ihr einen noch tieferen Schrecken ein.
Sie dachte einen Schritt weiter. Was war, wenn sich der verdammte Mörder noch in der Wohnung befand?
Nach diesem Gedanken fing sie
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