1459 - Die Hexe und ihr Henker
doch was dahinter steckte, das war ihr ein Rätsel.
Zudem wusste sie noch immer nichts mit der Gestalt im Hintergrund anzufangen. Zum Glück stand der Unheimliche still und traf keinerlei Anstalten, sie anzugreifen.
Laurie hatte sich wieder gefangen. Zumindest einigermaßen. Die Todesangst war gewichen, und den Gedanken an ihren Lover verdrängte sie. Sie wunderte sich sogar über ihren Mut, der sie dazu brachte, eine Frage zu stellen.
»Hast du auch einen Namen?«
»Ja.« Die Blonde nickte. »Ich bin Lucia, die Hexe!«
Da war es wieder, dieses Beißen im Magen. Die Antwort hatte Laurie verstört. Im Normalfall hätte sie gelacht. Genau das tat sie jetzt nicht, denn plötzlich war ihr der Begriff Hexe nicht mehr so fremd, wenn sie dies alles in einem bestimmten Zusammenhang sah. Den Sensemann gab es, warum sollte es dann keine Hexe geben?
»Und wer ist er?«, flüsterte sie.
»Das ist mein Henker!«
Wieder hatte sie eine Antwort erhalten, die sie kaum nachvollziehen konnte. Aber sie nahm sie hin und wollte keine weiteren Fragen mehr stellen. Laurie war froh, als ihr Lucia den Befehl gab, in die Wohnung zurückzugehen.
Die Terrassentür war noch nicht geschlossen. Laurie schaute nicht über die Schulter. Sie konnte den Anblick des toten Tommy nicht länger ertragen. Jetzt war sie froh, den kühlen Ort verlassen zu können.
Lucia lächelte ihr zu. Laurie konnte dem Lächeln nichts abgewinnen. Sie sah diese Frau als Feindin an, und sie fragte sich auch, was die andere Seite genau von ihr wollte. Alle anderen offenen Fragen stellte sie zunächst in den Hintergrund. Vielleicht würden sich die Antworten von selbst ergeben.
Die Hexe und ihr Henker!
Welch ein Wahnsinn! Das konnte es nicht geben. Es gab keine Henker mehr auf dieser Welt. Zumindest keine, die so aussahen.
Und Hexen?
Mit diesem Thema hatte sich Laurie Andrews nie beschäftigt. Sie wäre auch nicht auf die Idee gekommen, es sei denn, es hätte eine Verbindung zwischen Hexen und Mode gegeben. Ein Hexenlook, der den Designern eingefallen wäre. Dann hätte sie sich mit diesem Thema beschäftigen müssen.
Es war ihr noch etwas aufgefallen. Laurie konnte sich nicht daran erinnern, dass diese Lucia auch nur einmal normal geatmet hätte.
Ihr kam es vor, als würde sie überhaupt nicht atmen.
Außer Tommy befand sich niemand mehr draußen auf der Terrasse. Auch der Henker war mit in die Wohnung gegangen. Hier war es heller als auf der Terrasse. Das Gesicht der schaurigen Gestalt hatte Laurie bisher nicht genau gesehen. Es lag im Schatten der nach unten gezogenen Kapuze. Nun spürte sie den Drang, einen Blick in das Gesicht zu werfen, und sie drehte sich langsam um, weil sie auf keinen Fall Misstrauen erregen wollte.
Der Henker stand vor dem breiten Fenster. Er wandte der Scheibe den Rücken zu. Er sah aus wie ein mächtiger Scherenschnitt, der aus einer dunklen Masse gestanzt worden war.
Auch jetzt gelang es Laurie nicht, das Gesicht zu erkennen. Es lag nicht nur an der nach unten gezogenen Kapuze, sondern auch am Gesicht selbst, das keine normal helle Haut aufwies. Es hatte eigentlich gar keine Farbe. Völlig neutral. Das war alles.
Seine Sense hatte er mit dem Ende des Stiels auf den Boden gestellt. Die Klinge der Sense hing wie ein lang gezogener Halbmond über seiner Schulter. Das Metall gab ein Schimmern ab wie eine dunkel polierte Spiegelfläche.
Die Nackte drehte sich Laurie zu. »Ich weiß, dass du schöne Kleider besitzt. Ich bin nackt. Ich will etwas zum Anziehen haben. Ich liebe die Farbe weiß.« Sie bohrte ihren Blick in Lauries Augen. »Hast du so etwas in deinem Schrank hängen?«
Laurie überlegte blitzschnell. Ja, ein weißes Kleid besaß sie. Es würde vielleicht nicht perfekt passen, aber das spielte wohl keine Rolle. Die Hexe wollte einzig und allein ihre Blößen bedecken.
Sie nickte.
»Schön und wo?«
»In meinem Schlafzimmer«, erklärte Laurie mit leiser Stimme.
»Dort gibt es einen Schrank…«
»Lass uns hingehen!«
Die Hexe nickte dem Henker kurz zu und setzte sich in Bewegung.
Sie folgte Laurie Andrews in den Flur, der nicht besonders lang, aber geräumig in der Breite war und mit Aquarellbildern an den Wänden bestückt war.
Laurie öffnete die Schlafzimmertür. Das Aroma des Duschgels hing noch im Raum. Es gab auch sonst keine Veränderung, und weil dies so war, kam Laurie alles noch viel absurder vor.
»Ein weißes Kleid, Laurie.«
Laurie nickte nur.
»Wenn du keines hast, nehme ich deinen dünnen
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