146 - Der Schatz in der Tiefe
mit Steppmuster. Er schaltete die Leselampen an und wählte den Sender mit der besten Musik.
Roquette kam ins Deckshaus und stellte zwei große, dicke Tassen auf den Kartentisch. Den Zucker hatte sie ebenso gefunden wie die Kondensmilch und eine halbleere Calvadosflasche.
„Ist die nautische Welt wieder in Ordnung?" fragte sie.
„So gut wie heute war sie schon lange nicht mehr", antwortete er und zeigte ins Vorschiff hinunter. „Du siehst, es ist alles vorhanden."
„Ich bin beeindruckt."
Sie setzten sich aufs Dach des Deckshauses und lehnten sich gegen den Bügel, der Antennen, Radar und Rettungsinsel trug. Hinter den Felsen und den Palmen des Hafens berührte die Sonne, riesengroß und blutig rot, den Horizont. Gegen das Abendlicht hob sich die Silhouette der jungen Frau scharf ab. Charlie Arthold krümmte die Schultern nach vorn, als er Roquette anblickte. Sie wirkte plötzlich auf ihn wie eine Gestalt aus einer alten Sage. Sie schien jenseits der Wirklichkeit etwas zu sehen und mit größter Intensität anzustarren.
Das jedenfalls zuckte als flüchtiger Gedanke durch die Überlegungen des Skippers. Als Roquette den Kopf drehte und ihn ansah, zerstob diese Empfindung ebenso plötzlich, wie sie gekommen war.
Es roch nach dem Calvados im Kaffee.
„Ein schöner, ruhiger Platz", stellte sie fest. Im Ort, der in einem lockeren Viertelkreis um den Hafen lag, gingen die ersten Lichter an.
„Du warst noch niemals hier?" fragte Charlie verwundert.
„Nein, nie."
„Woher kennst du dann das Wrack und das alles?"
„Das, Herr Kommandant", versprach sie mit jenem seltsamen Lächeln, das sie so einzigartig machte, „ist eine andere Geschichte. Ich bin sicher, daß du sie eines Tages erfahren wirst."
Seth-Hega-Ib, der Dämon aus dem Land des Nils, befand sich in der Zone zwischen Wachen und Schlafen. Etwas, das er fühlte, aber nicht kannte, hatte ihn geweckt.
Er, der die Sterne im ewigen Dunkel über der Welt der Lebenden kannte und sie dazu benutzt hatte, daß sie ihm halfen, er wußte auch, daß ihn ein zitternder Strahl berührte. Ein Lichtfunken, eine Winzigkeit wie das aus dem Körper der Menschen entweichende Ka, mit dessen Hilfe er die Menschen zu seinem Werkzeug gemacht hatte. Alle dreimal fünfundzwanzig und ein Jahr lockte und weckte ihn diese fremde Kraft und gaukelte ihm vor, er könne aus seinem Gefängnis entweichen und sein altes Leben wieder aufnehmen.
Seth-Hega-Ib war uralt.
Seit dem Alten Reich, also zweieinhalb Jahrtausende vor der Zeitenwende, befand er sich auf der Welt der Menschen. Er war es gewesen, der die Priester seines Tempels angeworben und ihnen jene Macht verschafft hatte, die sie brauchten, um zu herrschen.
Die Leichen, die den Herrschern von Sakkara in die Gräber gelegt worden waren, sollten die Könige ins Jenseits begleiten.
Er wußte es besser: Er hatte sie weggeworfen, nachdem sich die Priester und er an der Lebensenergie der Höflinge gelabt hatten.
Fast zwei Jahrtausende hatte seine Herrschaft gedauert - dann rotteten sich die anderen zusammen und nahmen ihm die Macht und - scheinbar - das Leben.
Der Dämon besaß zwar noch seinen Körper, aber er war unbrauchbar. Nur ein Gefäß für seine Wesenheit. Sie hatten die anderen nicht umbringen können, nicht seine dämonischen Kenntnisse und nicht ihn, sein
Ka.
Damals…
Sie führten ihren Angriff aus dem Schutz der grellen ägyptischen Sonne heraus. Sie blendeten ihn mit Scheiben aus poliertem Silber. Dann warfen die Priester des anderen Tempels - er weigerte sich, an diesen Namen auch nur zu denken - ein Netz aus Wollfäden über ihn. Die Fäden waren, das erkannte er in einem langen schrecklichen Augenblick, an den Kreuzungspunkten mit Silberklammern zusammengehalten. Sie wußten es nicht besser; ihn rettete dieses Nichtwissen.
Aber in welche Form des Lebens hatten sie ihn gestürzt? War der Tod besser? Er war wie der Schlaf, der jene dreimal fünfundzwanzig Jahre galt, bevor wieder das unsichtbare Flackern zwischen den Sternen ihn weckte und ihm zeigte, welch furchtbares Schicksal ihn getroffen hatte.
Die minderen Dämonen in seiner Umgebung waren mit silberbeschlagenen Kampfkeulen getötet worden.
Die Priester des Re, des Strahlenden, befreiten die letzten noch lebenden Opfer, aus den Verliesen des Schwarzen Tempels. Viele von den Knaben und Mädchen waren verrückt. Ihr Geist hatte die schrecklichen Foltern nicht mehr ertragen. Sie siechten dahin und starben, als sie wieder das Sonnenlicht sehen konnten.
Weitere Kostenlose Bücher