146 - Winterkrieger
schüttelte den Kopf.
»Haben Sie noch immer nicht erkannt, dass ich Sie nur benutzt habe, um Colonel O’Hara, der mir schon viel zu lange ein Dorn im Auge war, loszuwerden?«
»Was…?« Ayris verstand kein Wort.
»Na, ganz einfach«, sagte Crow fast fröhlich. »Diese ganze Daa’muren-Geschichte war ein Bluff, um seine wahre Meinung über mich zu enthüllen. Glauben Sie denn wirklich, ich würde gegen mein Land mit dem Feind kollaborieren? Aber Captain…!«
Ayris wurde schwindlig. »Aber… wie konnten Sie wissen, an wen ich mich wenden würde?«
»Na, sehr groß war die Auswahl nun wirklich nicht, Grover. Dazu bedurfte es nur ein bisschen Logik und Voraussicht.«
Ayris wusste nicht mehr, was sie denken sollte. In ihrem Kopf ging alles drunter und drüber. »Was geschieht nun mit mir?«
»Was soll mit Ihnen geschehen?«
»Soll das heißen, Sie sperren mich nicht ein?«
Crow schaute sie an. »Wo Sie mir doch gerade so wertvolle Dienste geleistet haben? Wie käme ich dazu?«
Ayris’ Verwirrung nahm zu. Das konnte doch alles nicht sein. Sie fühlte sich wie in einem schlechten Traum. »Dann kann ich gehen?«
»Aber sicher«, entgegnete Crow und lächelte – aber etwas an diesem Lächeln war nicht echt. »Das heißt… eins müssen Sie mir noch verraten, Captain Grover.«
»Und das wäre?«
»Mich würde brennend interessieren, warum Sie in meiner Vergangenheit herumgeschnüffelt haben.« Seine Stimme wurde schärfer, und Ayris fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. »Was haben Sie gesucht, Captain?!«
Ayris erstarrte. Sie wusste, sie würde nicht lügen können.
Nicht nach diesem Wechselbad der Gefühle.
»Ich… bin die Tochter von Willard Grover.«
»Müsste ich den kennen?«
Crows Reaktion war wie ein Schlag ins Gesicht. Ayris fiel aus allen Wolken. War es wirklich möglich, dass man einen Menschen, mit dem man in seiner Jugend die aufregendsten Abenteuer erlebt hatte, einfach vergaß? War Crows Interesse an seinen Mitmenschen tatsächlich so gering, dass er Willard Grover aus seiner Erinnerung verdrängt hatte?
»Dann kennen Sie Captain Flannagan vermutlich auch nicht mehr?« Ayris fühlte eine seltsame Leichtigkeit. Die Angst fiel von ihr ab, jetzt, wo ohnehin alles egal war.
»Flannagan?« Das Aufblitzen in Crows Augen sagte ihr, dass er sich durchaus erinnerte. »Ja, sicher. Wie geht’s ihm?«
»Er ist tot.«
»War zu erwarten. Wir müssen alle mal sterben.«
Arschloch.
»Bevor er starb, hat er mir seine Lebensgeschichte aufgezeichnet.«
»Verstehe.« Crow nickte. »Wenn Sie mich fragen, war Captain Flannagan allerdings kein verlässlicher Zeuge, was die Realitäten dieser Welt anbetrifft. In den letzten Jahren hat er merkwürdige Substanzen zu sich genommen, wussten Sie das? – Gerade fällt mir übrigens ein, dass ich tatsächlich mal einen Willard Grover gekannt habe. Er kam vor Unzeiten bei einem Einsatz ums Leben. Als wir bei den Winterkriegern dienten. Er war Ihr Vater? Mein Beileid.« Crow schaute auf. »Besser erinnere mich jedoch an Ihre Mutter, Captain.«
»Die haben Sie vermutlich auch auf dem Gewissen.«
Crow winkte ab. »Sie haben ja keine Ahnung. In dieser Hinsicht sind Sie Flannagan sehr ähnlich. Sie sehen immer nur das Äußere, das Vordergründige. Sie haben kein Verständnis für die Realität hinter den Dingen, die Welt hinter den Spiegeln, das Große Ganze.« Er schaute zu seinen Leibwächtern hin, die noch immer an der Tür standen.
»Ich könnte Ihnen viel über die schreckliche Epoche erzählen, in der wir aufwuchsen, Captain. Aber da ich Sie nun kenne, glaube ich, dass Sie für meine Motive und Rechtfertigungen nur die gleiche Verachtung übrig hätten wie Jimmy Flannagan, an dessen geistiger Gesundheit ich schon an dem Tag Zweifel hatte, an dem ich ihn kennen lernte. Es gibt Dinge, die weder schwarz noch weiß sind. Es gibt Fragen, die man nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten kann. Meine Zeit ist knapp. Und die Ihre ist, fürchte ich, leider abgelaufen.«
Er nickte ihr zu und verließ den Saal.
***
Ayris stand mit offenem Mund da.
Crows Leibwächter lösten sich von der Tür und kamen auf sie zu. Ayris hatte das dumme Gefühl, dass es aus mit ihr war, wenn sie sie in die Hände bekamen.
Sie schaute schnell von links nach rechts, dann fuhr sie herum, marschierte entschlossen los und drängte sich durch die Menge. Die Leibwächter beschleunigten ihre Schritte; offenbar hatten sie nicht damit gerechnet, dass ihr
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