1460 - Lockruf des Trolls
Türen ab, aber der Maler und Fotograf öffnete keine von ihnen, sondern bat Judith die Treppe hinauf, um sie in sein Atelier zu führen.
Es war eine alte Stiege mit leicht gewölbten Stufen. In der ersten Etage allerdings sah es anders aus, denn dort befand sich ein Anbau, der von vier dicken Holzbalken gestützt wurde und mehr wie ein Balkon wirkte, der schon terrassenartige Ausmaße hatte. Glaswände ließen von drei Seiten das Licht hinein. So konnten keine Bilder an den Wänden hängen. Sie standen am Boden, lehnten an den Glaswänden, an Stühlen und an Schränken.
An einem Bild malte Peter Login. Es zeigte wieder eine Landschaft. Recht düster war sie. Mittelpunkt in ihr war ein mit Gras bewachsener Hügel, über dem zarte Gestalten schwebten.
Zwei der fragilen Gestalten waren von Händen gepackt worden, die aus der Erde ragten. Ihre Haut war braun, die Finger breit und schmutzig. Sie quetschten die zarten Körper so hart zusammen, dass sie in der Mitte durchgebrochen waren. Ihre Gesichter spiegelten die Schmerzen wider, die sie empfinden mussten.
»Schlimm!« flüsterte Judith Hill, als sie sich das Bild anschaute.
»Ja, es ist nicht fröhlich. Aber so sind die alten Geschichten und Mythen hier nun mal.«
»Wem gehören denn die Hände?«
»Einem Troll.«
»Aha. Und die beiden gefangenen Wesen…?«
»Sind so etwas wie Elfen.«
»Oh…«
»Ja.« Login deutete auf das Bild. »Ich habe gemalt, was man in den alten Überlieferungen lesen kann.«
Judith Hill nickte langsam. Sie strich dabei über ihr helles, fast strohblondes Haar, das in der Mitte gescheitelt war.
»Es sind oft schlimme Geschichten, nicht wahr?«
Peter Login nickte. »Wie überall in den Ländern. Diese Überlieferungen sind fast nie positiv.«
»Ja, das denke ich auch.« Sie räusperte sich. »Ich habe mal gehört, dass es Menschen gibt, die an so etwas glauben. Ich meine, die glauben daran, dass es Elfen und Trolle gibt. Das ist jetzt, wenn ich das Bild sehe, gar nicht komisch.«
»So würde ich es auch sagen.«
»Glauben Sie denn an Trolle?«
Mit dieser Frage hatte Login eigentlich rechnen müssen, wenn das Thema schon darauf kam. Er fühlte sich trotzdem überrascht und hob die Schultern an.
»Nun ja, man darf nicht alles als Märchen abtun, was man über die Trolle hört, Mrs. Hill.«
»Nicht?«
»So ist es.«
Sie leckte mit der Zungenspitze über ihre Lippen, unter denen sich ein kleines Kinn vorschob. Blaue Augen, Sommersprossen auf der Haut wie blasse Flecken und eine etwas zu breite Nase vervollständigten das Bild der jungen Mutter.
»Dieses Bild würde ich jedenfalls nicht kaufen. Ich möchte etwas Fröhliches in meinem Haus haben.«
»Das werden wir bestimmt finden.« Der Maler wandte sich ab und ging zu einem Fenster.
Judith blieb nachdenklich vor dem Bild stehen. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt und sah aus wie jemand, der scharf nachdachte.
Dann sprach sie Peter Login an.
»Mir ist da noch etwas eingefallen, was die Trolle angeht«, sagte sie.
»Und was?«
»Ich habe mal gehört, dass sie scharf auf Kleinkinder sind, sie rauben und dafür eine andere Person in die Wiege oder das Bett legen. Einen Wechselbalg.«
»So erzählt man es sich.«
»Haben Sie deshalb darauf bestanden, dass ich meinen kleinen Sohn mit ins Haus nehme?«
Jetzt hat sie mich!, dachte Peter und schloss für einen Moment die Augen. Es war tatsächlich so gewesen. Wenn er gewusst hätte, dass sie ihren Sohn mitbringen wollte, dann wäre alles anders gelaufen.
Er hätte ihr geraten, allein zu kommen, aber manchmal ging das Leben so verschlungene Wege, dass kein Mensch sie überblicken konnte.
Er wollte Mrs. Hill nicht die Wahrheit sagen und wiegelte deshalb ab. »Es ist immer besser, wenn ein Kind beaufsichtigt wird. Sollte es aufwachen und anfangen zu schreien, hören wir es besser.«
»Richtig, das ist ein Grund.« Judith Hill hatte den Satz so ausgesprochen, dass es dem Künstler schwer fiel, ihr zu glauben.
»Wollen Sie hier bitte schauen, Mrs. Hill?«
»Ja, ja, sofort!«
Sie war noch etwas durcheinander und dachte daran, dass ihr Junge unten in der Kinderkarre schlief. Sie hätte nicht nach dem Motiv auf dem düsteren Bild fragen sollen, doch jetzt war es zu spät, sich darüber aufzuregen. Sie überlegte in diesem Moment, ob sie überhaupt ein Bild kaufen sollte. Momentan befand sie sich nicht in der richtigen Stimmung, weil sie ihre Gedanken nicht zusammenhalten konnte.
Der Künstler beobachtete sie. Er hatte
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