1460 - Lockruf des Trolls
beide sehr wachsam. Justine hatte das Gewehr quer über die Knie gelegt. Sie mit einer derartigen Waffe zu sehen war schon verwunderlich. Normalerweise verließ sie sich auf ihre Körperkräfte. Hier machte es ihr wohl Spaß, ein Gewehr zu besitzen.
»Spürst du bereits ihre Nähe?« fragte ich sie.
»Noch nicht. Achte auf den Weg. Du musst gleich rechts ab.«
»Da vorn ist es schon.«
Ich drehte das Lenkrad. Jetzt gab es keine Straße mehr, sondern nur noch einen Feldweg, dem man ansah, dass er befahren wurde, da Reifen ihre Spuren hinterlassen hatten. Auch sonst war die Strecke relativ frei. Der Künstler musste sie von Büschen und überhängenden Ästen befreit haben. Unser Blick fiel auf das Haus am Ende des Wegs. Es machte auf uns einen völlig normalen Eindruck und passte auch in die Gegend. Es war nicht zu hoch, und so etwas wie ein Spitzdach, unter dem sich ein Atelier befand, sahen wir nicht.
Dafür sahen wir einen roten Van in der Nähe parken.
Alles machte auf uns einen harmlosen Endruck.
An den glaubte die Blutsaugerin neben mir jedoch nicht. Sie hatte die Stirn gerunzelt und schaute mit einem fast bösen Blick nach vorn.
»Halt mal an, John!«
»Warum?«
»Halt an!« zischte sie.
Ich tat ihr den Gefallen. Aus Spaß hatte sie mich sicherlich nicht angegiftet.
Sie stieg schneller aus als ich. Das Gewehr hielt sie wieder locker in der Rechten. Ihr Blick war starr nach vorn gerichtet, und in diese Richtung schaute ich ebenfalls.
Ich sah eine Bewegung an der Hausecke. Wir hörten sogar einen Schrei, und einen Augenblick später zeigte sich der Troll. Er huschte schnell wie ein Wiesel um die Ecke und rannte auf die Haustür zu.
Sein großer Kopf wackelte. Es sah lustig aus, aber das war es nicht, denn dieser Wicht war von Grund auf böse.
Er schrie weiter, stieß sich ab und rammte die Tür zum Haus auf, noch bevor die Cavallo das Gewehr in die Höhe reißen konnte. Wir hatten auch gesehen, dass die Tür nicht ganz geschlossen gewesen war. Es musste schon alles vorbereitet gewesen sein, und da wir nicht mehr im Wagen saßen, hörten wir auch die Schreie aus dem Haus.
Justine Cavallo lachte auf. »Sie sind schon da!«
Ich gab ihr keine Antwort und war bereits unterwegs. Dabei hatte ich mich voll und ganz auf die Haustür konzentriert und nicht auf die Seiten geachtet. Der Gedanke, dass es noch weitere Trolle in der Nähe geben konnte, war mir nicht gekommen.
Aber sie waren da, und sie griffen uns an!
***
Die Angst um ihren Jungen ließ Judith Hill alle Vorsicht vergessen.
Sie stürzte auf die Treppe zu, die nicht dafür geeignet war, sie hinunter zu hasten. Dafür waren die Holzstufen zu glatt. Judith wäre fast gefallen. Sie rutschte bereits über die ersten beiden Stufen hinweg.
Im letzten Augenblick schaffte sie es, sich festzuhalten, geriet dabei allerdings ins Schleudern und wandte dem Ende der Treppe ihren Rücken zu. Ihr Mund war weit aufgerissen. Der Schreck, den sie empfand, stand in ihren Augen. Sie sah Peter Login oben an der Treppe erscheinen und nach unten starren. Sein Gesicht war verzerrt, und er schien die junge Mutter gar nicht zu sehen.
Judith merkte, dass sie von ihrem eigenen Gewicht nach unten gezogen wurde. Sie konnte sich nicht mehr halten. Ihre Handfläche rutschte über den Holzlauf des Geländers, und sie hörte das dabei entstehende Quietschen.
Im letzten Moment gab sie ihrem Körper den richtigen Schwung, sodass sie wieder Halt fand. Die Hälfte der Stufen lag hinter ihr. Obwohl es hier nicht so hell war wie im Anbau, sah sie doch, dass etwas Schreckliches passierte.
Jemand war in das Haus eingedrungen. Kleine Gestalten hielten die Kinderkarre mit ihrem Sohn umringt. Sie zählte vier, so klar war sie noch, und sie sah auch, dass zwei von ihnen in den Wagen griffen.
»Timmy!« schrie sie.
Und dann sprang sie. Es war ihr egal, dass sie sich in Gefahr begab. Hier reagierte sie einzig und allein ihren starken Muttergefühlen entsprechend.
Sie wollte Timmy retten, schaffte es auch, die Stufen hinter sich bringen und prallte hart auf. Die Wucht konnte sie nicht ausgleichen, so trieb sie der Schwung weiter nach vorn, und sie prallte mit den Füßen zuerst gegen die Kinderkarre.
Zwei dieser schrecklichen Gestalten hatten Timmy bereits aus dem Wagen geholt. Sie rissen ihn hoch. Der Junge schrie nicht mal, weil ihn der Schmerz stumm gemacht hatte.
»Gebt ihn her!« brüllte sie.
Es war ein Schrei der Verzweiflung, der ihr nichts einbrachte.
Zwei Trolle zugleich
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