1466 - Tödliche Küsse
Sie dazu bewogen hat, meine Nummer zu wählen?«
»Nun ja, ich – ich…«
»Bitte, reden Sie.«
»Hm, es ist nicht ganz einfach. Ich habe Ihre Telefonnummer von einer Freundin erhalten.«
»Wie heißt sie denn?«
»Sue Hellman.«
Schluss – zunächst. Er sagte nichts, aber der Mann, dessen Namen Jane nicht kannte, war noch dran. Sie hörte ihn atmen, und sie hatte das Gefühl, genau das Richtige getan zu haben. Zumindest war der unbekannte Typ verunsichert.
»Sie sollten Sue kennen.«
Der Unbekannte sprach wieder. »Ich bin mir da nicht so sicher, denn ich kenne viele Frauen.«
»Das weiß ich. Sie sprach ganz begeistert von Ihnen.«
»Wann war das denn?«
Jane Collins hatte den lauernden Tonfall in der Stimme nicht überhört und musste jetzt verdammt Acht geben, was sie sagte.
»Es liegt schon etwas länger zurück. Ich hatte bisher zu viel zu tun. Das hat sich jetzt gelegt, und nun bin ich Sues Rat gefolgt und habe Sie angerufen.«
»Sie wollen mich also treffen?«
»Wenn möglich schon und auch schnell. Ich bin nur kurze Zeit in London, dann muss ich wieder zurück nach Liverpool. Wenn sich vielleicht heute noch etwas machen ließe, dann wäre ich froh, denn…«
»Oh, das tut mir sehr leid. Heute leider nicht. Da habe ich bereits etwas vor.«
»Schade«, murmelte Jane enttäuscht.
»Nur nicht aufgeben, meine Liebe. Ich könnte Ihnen morgen einen Termin geben. Um Mittag herum oder auch etwas später. Ein kurzer Anruf zuvor reicht aus.«
Jane triumphierte. Sie befand sich auf der richtigen Spur, das stand für sie fest. Nur jetzt keinen Fehler machen. Aber Aufregung in der Stimme schadete da bestimmt nicht.
»Oh, das könnte gehen – ja, das ist gut. Ich habe das Wochenende über frei. Da kann ich kommen. Sue hat mir nicht alles erzählt. So kenne ich Ihren Namen leider nicht. Ich heiße Jane.«
»Hört sich gut an, Jane. Aber mein Name tut nichts zur Sache. Sie werden ihn noch früh genug erfahren.«
»Gut.«
»Dann höre ich morgen wieder etwas von Ihnen?«
»Ja, ganz sicher.«
»Ich freue mich, Jane.«
»Danke, ich auch.« Nach diesem Satz unterbrach sie das Gespräch und blies zunächst mal die Luft aus. Unter der Platane war es relativ schattig. So konnte sie es aushalten, auch wenn ein paar Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe glänzten. Das beeinträchtigte ihr Denken nicht, denn sie ließ noch einmal Revue passieren, was sie soeben erfahren hatte. Den Namen des Mannes kannte sie nicht. Sie wusste trotzdem, was dieser Mann war. Wer so redete, der ging nur einem Job nach: Er war ein männlicher Prostituierter, und man nannte diese Menschen auch Callboys.
Ja, das passte sogar. Dann hatte Sue Hellman schon ihr Geheimnis gehabt. Die nach außen hin perfekte Ehe war innerlich leer gewesen.
Sie und ihr Mann lebten wie Bruder und Schwester zusammen. Da hatte sich die gute Sue eben woanders das geholt, was sie zu Hause nicht bekam – die Erfüllung im Bett.
Wäre sie zu ihrem Mann nach Hause zurückgekehrt, wie sie es bestimmt schon zahlreiche Male getan hatte, hätte es gar keinen Fall gegeben.
Jane Collins horchte in sich hinein und konnte sich vorstellen, dass mehr hinter dieser Sache steckte. Auch wenn sie Sue Hellman nicht persönlich kannte, so war sie nach allem, was sie gesehen und gehört hatte, ein Familientier, und trotz der kleinen Abenteuer würde eine Frau wie sie zumindest ihre Kinder niemals im Stich lassen.
Die Sorge, dass Sue Hellman nicht mehr lebte, verstärkte sich bei Jane.
Wichtig war, dass sie herausfand, wer hinter der Telefonnummer steckte. Es würde für sie nicht einfach sein, dies herauszufinden, aber sie selbst wollte sich nicht darum kümmern. Wofür hatte man Freunde? Und einer dieser Freunde hieß John Sinclair. Und so war Scotland Yard Jane Collins nächstes Ziel…
***
Bereits im Taxi hatte Nora Quinn gezittert. Ihre Erwartungshaltung war einfach zu groß, als dass sie hätte kühl und gelassen bleiben können. Und jetzt, als sie den Wagen verlassen hatte, da zitterten ihre Beine noch stärker. Das Gefühl, Pudding in den Knien zu haben, wollte einfach nicht weichen.
Sie konnte nicht sofort vom Wagen aus in das Haus gehen. Sie musste eine kleine Gründfläche überqueren, hinter der die alten und frisch renovierten Häuser standen, in denen nur Menschen lebten, denen es finanziell sehr gut ging.
Nora raffte den dünnen Sommermantel vor ihrer Brust zusammen.
Sie hätte ihn auch schließen können, doch die Zeit wollte sie sich nicht nehmen.
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