1476 - Höllenbilder
ihren heftigen Atem. Seine Augen brannten.
Jessica bewegte sich nicht mehr. Sie stand versetzt vom Fenster und wies auf die Scheibe. Dabei war ihr Gesicht so bleich wie Kreide geworden.
»Was hast du gesehen?«
»Sie – sie…«
»Wen?«
»Die Frau mit dem zerschnittenen Gesicht.«
Elias Moore zögerte. Er musste erst nachdenken. Zu viel war auf ihn eingestürmt. Aber er erinnerte sich an die Erzählungen seiner Mitgefangenen. Sie hatte davon gesprochen, dass in dem Atelier ein Bild gestanden hatte, das das Gesicht einer Frau zeigte. Ein zerschnittenes und blutiges Gesicht.
Als er einen Blick auf das Fenster warf, rechnete er damit, es zu sehen. Doch das Gesicht war verschwunden.
»Es ist weg!« sagte er.
»Ja, verdammt! Aber es war da!« schrie Jessica.
»Okay, ich glaube dir. Ich wollte dir nur sagen, dass ich es nicht mehr gesehen habe.«
Sie fing plötzlich an zu lachen. »Es ist nicht nur das Skelett auf dem Pferd, auch das zweite Bild lebt, und ich bin mir sicher, dass auch das dritte Bild zum Leben erwacht ist.«
»Dieser Krake und die Frau?«
»Ja.«
»Aber gesehen hast du von denen noch nichts?«
»Nein.«
Elias Moore überlegte, was er tun sollte. Es gab nur eine Möglichkeit, auch wenn sie ihm selbst nicht besonders gefiel. Er musste zum Fenster und selbst hinausschauen.
Wohl war ihm dabei nicht. Das Herz schlug wie ein Hammer in seiner Brust, aber er wollte sich keine Blöße geben und humpelte auf das Fenster zu.
Beim ersten Blick durch die Scheibe sah er nichts.
»Ich sehe sie nicht.«
»Die hält sich versteckt, glaub mir. Die hat sich auch angeschlichen. Ich weiß, dass sie uns nervlich fertigmachen will, und nicht nur sie, auch das verdammte Skelett.«
»Okay, ich öffne jetzt das Fenster.«
»Aber sei vorsichtig.«
»Klar. Ist sie bewaffnet?«
»Ich habe nichts gesehen«, flüsterte sie.
»Gut.« Elias gab sich locker, doch das war nur gespielt.
Das Fensterquadrat war lange nicht mehr geöffnet worden. Deshalb musste er schon zerren, um es aufziehen zu können. Als er es geschafft hatte, war die kühle Luft eine Wohltat. Er sah auch den fernen Sonnenschein wie einen kostbaren Glanz und konnte sich nicht vorstellen, dass hier das Grauen präsent war.
Bisher hatte er nur direkt nach vorn geschaut und nicht zu den Seiten hin. Er änderte dies und drehte zuerst den Kopf nach links und dann sofort nach rechts.
Von der Frau mit dem blutigen Gesicht war nichts zu sehen. Erleichterung verschaffte ihm das trotzdem nicht, weil er nicht glaubte, dass sich Jessica Black geirrt hatte.
Das Fenster lag tief genug, sodass er sich auch hinausbeugen konnte. Das tat er jetzt, streckte den Kopf vor und schaute nach unten.
Es war sein Glück. So sah er noch rechtzeitig die dort kauernde Gestalt, die sich in diesem Augenblick in die Höhe schwang und dabei ihre Arme ausstreckte.
Es war ein Bild, das in Sekundenschnelle vor ihm erschien. Nicht nur ein blutiges Gesicht, auch mit Blut verschmierte Hände tauchten vor ihm auf.
Er schrie. Sein Kopf zuckte dabei zurück, und trotzdem war er nicht schnell genug. Die Hände erwischten ihn noch im Gesicht, aber sie glitten daran entlang, und so schafften es die Fingernägel nicht, seine Haut aufzureißen.
Elias Moore taumelte zurück. Dabei sah er, dass die Frau durch das Fenster in die Hütte glotzte. Ihr Gesicht sah wirklich grauenhaft aus. Überall zeigten sich die Schnittwunden, aus denen das Blut gelaufen war und feuchte Spuren hinterlassen hatte. Es war auch über die Lippen gelaufen und hatte seine Zeichen auch am Hals hinterlassen. Zwar gehörte die Fratze einem Menschen, nur hatte sie nicht viel Menschliches mehr an sich. Sie war zu einer abstoßenden Maske geworden, die Jessica Black nicht mehr sehen wollte. Sie schlug die Hände vor ihr Gesicht, wandte sich ab und schüttelte den Kopf.
Moore war nur eine Schrittlänge zurückgewichen. Er konnte nicht vergessen, dass die Hände über sein Gesicht gefahren waren, und als er jetzt darüber hinwegwischte und seine Handflächen wenig später betrachtete, da sah er die rote Flüssigkeit.
Es war nicht sein Blut, sondern das der anderen Person.
In diesem Augenblick hätte er am liebsten selbst losgeschrien, was er aber nicht tat, denn er durfte die Nerven nicht verlieren.
Die Frau verschwand nicht. Nach wie vor starrte sie mit ihrem blutigen Gesicht in die Hütte hinein. Ob sie etwas sah, war fraglich, denn auch über und in ihre Augen war das Blut gelaufen.
Aber darum ging es nicht.
Weitere Kostenlose Bücher