1491 - Im Schloss der Hexen
kam es mir vor, als wäre die Frau nicht allein gewesen. Bist du auch der Ansicht oder habe ich falsch geschaut?«
»Hast du nicht.«
»Und?«
»Es gab da ein Mädchen. Vielleicht so alt wie Evi. Rotblonde Haare und dicht bei der Hexe. Sie hat es mitgenommen, als sie die Treppe zu dieser Tür hochschritt.«
»Und dann kam das Feuer – oder?«
»Ja.«
»Es galt uns und nicht dem Kind oder der Hexe. Die beiden haben es überstanden, aber ich würde gern erfahren, wer das Kind war. Und wenn ich dich so anschaue, siehst du die Dinge ebenso.«
»Richtig.«
Nach einer kurzen Pause fragte Suko: »Hast du möglicherweise einen Verdacht, wer das Kind sein könnte?«
»Habe ich nicht.«
»Dann wird es irgendwo vermisst.«
»Genau, Suko, und da sollten wir die Suche ansetzen. Wir müssen das Mädchen finden. Alles andere kannst du vergessen. Wichtig ist nur dieses Mädchen, und ich hoffe nicht, dass die Frau es getötet hat und der Märchenhexe nacheifert.«
»Das walte unser gemeinsamer Gott«, flüsterte Suko, dessen Gesichtshaut blass geworden war.
Wir wollten keine Sekunde zögern, um mit den Recherchen zu beginnen. Aber zuvor mussten andere Dinge geregelt werden. Evi Morton musste zurück zu ihrem Vater. Ich beneidete den Mann nicht um seine Aufgabe. Er musste Evi klarmachen, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Ob sie diesen Schock je überwinden würde, war fraglich. Zum Glück gab es gute Psychologen, die sich um sie kümmern konnten.
»Warum hat man die Frau umgebracht?« flüsterte Suko. »Ich verstehe es nicht. Einfach so!«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte ich. »Diese Radmilla wird einen Grund gehabt haben.«
»Sie wollte die Mutter aus dem Weg räumen, um an das Kind heranzukommen.« Suko schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht begreifen.«
Ich blickte auf die Uhr. Es war Zeit, dass unser Freund Tanner erschien und wir uns um das rotblonde Mädchen kümmern konnten.
Ich ging fest davon aus, dass es zu den Kindern gehörte, die man vermisste. Leider gab es davon immer mehr. Die meisten verschwanden in einer schrecklichen Subkultur, die von perversen Kinderschändern und -händlern kontrolliert wurde.
»Da kommt Tanner«, sagte mein Freund. Bei dem Chiefinspektor war ein Mann, der mit gebeugtem Kopf daherging, aber von seiner Tochter trotzdem sofort erkannt wurde.
»Daddy! Daddy!« rief Evi und rannte ihrem Vater entgegen.
Suko und ich blieben zurück. Wir pressten die Lippen zusammen, als wären sie zugenäht worden…
***
»Du bist aber schön…«
»Ja, das bin ich, meine Kleine. Ich bin auch die Weihnachtsprinzessin.«
»Ach, nicht die Hexe?«
»Ja, auch die.«
»Darf ich dich ganz sehen?«
»Dann musst du schon in mein kleines Haus kommen.«
Julias Augen leuchteten auf. Sie war ein Kind, das Märchen sehr mochte. Sie war damit aufgewachsen. Julias Mutter hatte ihr von klein auf die Geschichten erzählt, und das Zuhören war für Julia immer das Größte gewesen. Tief in ihrem Innern hatte sie sich gewünscht und auch davon geträumt, dass all die Figuren aus den Märchen zum Leben erweckt wurden und anfingen, mit ihr zu spielen und sie dorthin brachten, wo sie selbst lebten.
Manche in prächtigen Schlössern, andere in kleinen Häusern am Wald oder sogar in den Wolken, dicht unter dem Himmel, wo Frau Holle wohnte.
Julia legte den Kopf zur Seite. »Und was finde ich dann in deinem Haus?«
Das Gesicht innerhalb des kleinen Türfensters verzog sich zu einem Lächeln. »Willst du dich nicht überraschen lassen?«
Julia trat von einem Bein auf das andere, weil sie unsicher war.
»Ja, schon, aber…«
»Was ist mit aber?«
»Ich – ähm – ich müsste erst noch meine Mutter fragen. Sie steht an dem Stand dort und trinkt Glühwein.« Julia lächelte verschmitzt.
»Ich bin weggelaufen.«
Radmilla winkte ab. »Ach, das ist nicht tragisch. Du bist ja nicht verloren.«
»Ich weiß, aber…«
»Wie heißt du denn?«
»Julia.«
»Ein schöner Name.«
»Ja, meiner Mutti gefällt er auch.«
»Und du kommst hier aus Nürnberg?«
»Ja, komme ich.«
»Dann kennst du den Markt gut.«
»Wir sind immer hier. Nur dein Haus, das habe ich noch nie vorher gesehen.«
»Es ist auch ein besonderes Haus. Das Haus einer Hexe…«
»Gibt es darin auch einen Ofen?«
Das weiche Gesicht verzog sich. »Warum sollte es den geben? Meinst du vielleicht, dass es mir zu kalt werden könnte?«
»Nein, ich denke an den Ofen, in den Hexen die Kinder geworfen haben.«
»Ah, so meinst du
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