1491 - Im Schloss der Hexen
das.« Radmilla schüttelte den Kopf. »Nein, einen solchen Ofen gibt es bei mir nicht. Wenn mir zu kalt wird, dann zaubere ich mich warm.«
Julia blieb vor Staunen der Mund offen. Auch ihre Augen weiteten sich, und sie stieß den Atem aus, der vor ihren Lippen eine weißgraue Wolke bildete.
»Du kannst zaubern?« hauchte sie und legte die rechte Hand vor die Lippen.
»Ja warum nicht? Ich bin auch eine Zauberin, denn Hexen können viel, sehr viel.«
»Ja, das habe ich gehört. Das glaube ich sogar.«
»Du kannst dich selbst davon überzeugen.«
Julia hatte noch Bedenken. Sie schaute sich um. Ihre Mutter war noch zu sehen. Sie stand weiterhin mit anderen Bekannten am Glühweinstand und ließ es sich schmecken.
»Dauert es denn lange?« fragte die Kleine.
»Bestimmt nicht. Aber es kommt auf dich an. Wenn ich…«
»Nein, nein, nur kurz. Ich muss ja wieder zurück zu meiner Mutti. Sie macht sich bestimmt Sorgen, wenn sie mich nicht mehr sieht.«
»Das kann ich verstehen.«
»Dann – dann komme ich jetzt.«
»Toll, Julia. Moment, ich muss dir noch die Tür öffnen.«
»Ja, ich warte.«
Die Klappe in der oberen Hälfte der graugrünen Tür wurde zugedrückt. In den nächsten Sekunden erlebte Julia nichts. Es gab auch nichts, das sie ablenkte. Der Christkindlmarkt in Nürnberg war natürlich wieder proppenvoll wie immer in den Wochen vor Weihnachten. Es herrschte kein Lärm, aber eine typische Geräuschkulisse, die am Morgen begann und erst endete, wenn der Markt am Abend seine Pforten schloss.
Julia war gespannt, was die Hexe ihr zeigen würde. Aber sie fürchtete sich auch ein wenig, denn was sie tat, war nicht gut. Sie hatte ihrer Mutter nicht genau gesagt, wohin sie laufen wollte, und wenn sie jetzt noch in einem Haus verschwand, dann bekam sie schon ein schlechtes Gewissen.
Aber die Hexe interessierte sie. Sie war einfach etwas Besonderes.
Wenn aus den Büchern vorgelesen wurde oder sie selbst las, dann musste sie sich die Hexen immer vorstellen. Die meisten waren böse, trugen dunkle Kleidung und hatten hässliche Gesichter. Das war bei dieser Hexe nicht der Fall. Sie hatte ein schönes Gesicht, sie war auch nicht alt, sondern recht jung.
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Es stammte von der Tür, die in den Angeln knarrte.
Julia schaute durch den Spalt, der langsam breiter wurde. Bisher hatte sie nur das Gesicht der Hexe gesehen. Jetzt sah sie, dass es sich bei ihr um eine große und auch schöne Frau handelte. Jedenfalls empfand Julia das lange Kleid als schön. Sie liebte lange Kleider über alles. Dabei spielte die Farbe keine Rolle. Hauptsache ein langes Kleid. Dieses hier war schwarz oder dunkelgrau und schleifte sogar über den Boden.
»Möchtest du nicht eintreten, Julia?«
»Ja, gern.«
»Dann komm.« Radmilla öffnete die Tür noch weiter, damit ihre Besucherin ohne Probleme das kleine Haus betreten konnte. Sie schaute sich sofort um, und wieder weiteten sich ihre Augen vor Staunen, als sie einen ersten Blick in die Umgebung warf.
Sie hatte sich nie großartig darüber Gedanken gemacht, wie so ein Hexenhaus wohl innen aussehen würde. Eigentlich hätte es auch innen alt sein müssen, mit dunklen Wänden, über die Spinnen krochen, und mit Gläsern auf dem Tisch, in denen sich Würmer und Käfer bewegten. Irgendwie gehörte das einfach zu einem Hexenhaus, aber auf der anderen Seite gab es auch liebe Hexen.
Radmilla schien eine davon zu sein. Nichts, was eklig gewesen wäre, war hier zu sehen. Es gab eine kleine Couch. Davor stand ein Tisch, und an der Rückseite des Zimmers sah das Mädchen ein Fenster, das aber keine Glasscheibe hatte.
Julia sah noch etwas.
Auf dem Tisch lag ein Messer mit einer sehr langen Klinge, die im letzten Drittel etwas gebogen war.
Plötzlich schlug ihr Herz schneller. Vor Messern hatte sie schon immer große Angst gehabt, und das war auch jetzt so. Sie wollte nicht hinschauen, aber stets wurde ihr Blick von diesem Messer angezogen, als wäre es ein starker Magnet.
Sie leckte über ihre Lippen.
Radmilla hatte bisher nichts gesagt. Jetzt aber stellte sie eine geflüsterte Frage.
»Was hast du? Du bist so still und sagst kein Wort.«
»Ich weiß nicht…«
»Ist es das Messer?«
»Ja.«
Radmilla lachte. Nein, das war kein Lachen, das war etwas anderes, und Julia empfand es auch so. Es war ein böses Kichern, das nur Menschen ausstießen, die etwas Böses im Schilde führten und sich ihres Vorhabens dabei sehr sicher waren.
Julia schaute sie an.
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