1491 - Im Schloss der Hexen
»Du bist keine gute Hexe?«
»Ach. Wie kommst du darauf?«
»Gute Hexen lachen nicht so und haben auch keine solchen Messer. Du bist eine andere.«
Radmilla beugte ihren Kopf vor. »Wie schlau du doch bist, kleine Julia, aber ich mag schlaue Menschen. Oder bist du einfach zu schlau, meine Kleine?«
»Wieso?«
»Ich meine nur.«
Julia wusste keine Antwort. Sie wollte der Hexe nicht mehr ins Gesicht schauen und blickte sich um, wobei sie dann eine Frage stellte, die ihr auf dem Herzen lag.
»Wohnst du hier?«
»Nein, nicht wirklich. Nur für eine gewisse Weile. Eigentlich wohne ich woanders.«
»Ach!« staunte das Kind. »Wo denn?«
»In einem Schloss.«
»Nein…«
»Doch!«
Julia konnte es nicht glauben. »In – in einem richtigen Schloss wohnst du?«
»Ja.«
»Wo ist das denn?«
»Es ist nicht zu sehen, aber es ist da. Sogar ganz in unserer Nähe. Möchtest du es kennen lernen?«
Julia überlegte. Es war ihr nicht peinlich, das kleine Haus betreten zu haben, aber das gute Gefühl, das sie draußen noch gehabt hatte, war jetzt verschwunden. Sie fühlte die Beklemmung, die sie inzwischen ergriffen hatte, und wünschte sich plötzlich, das Haus wieder schnell verlassen zu können.
»Nein, ich glaube dir, dass du in einem Schloss wohnst. Aber ich will es nicht sehen.«
»Warum nicht?«
Julia drehte sich um. »Es ist genug. Ich muss wieder gehen. Meine Mutti sucht mich bestimmt schon.«
»Deine Mutti?« Radmilla lachte nach dieser Präge so hässlich, dass Julia erschrak.
»Ja…«
Die Hexe schüttelte den Kopf. »Nein, meine Kleine, deine Mutti kannst du vergessen. Ich habe jetzt den Part deiner Mutti übernommen. Ich bin deine Mutti. Deine neue Mutti. Du gehörst zu mir, mein kleiner Schatz.«
Julia hatte alles gehört, aber sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie spürte plötzlich eine Kälte, die sich in ihrem Innern ausgebreitet hatte. Sie kroch durch den gesamten Körper und erreichte sogar die Zehenspitzen. Ihr kleines Herz schlug schneller als gewöhnlich, und als sie jetzt einen Blick in das Gesicht der Hexe warf, da entdeckte sie die Veränderung darin.
Es sah längst nicht mehr so freundlich aus. Um den Mund herum hatte es bösartige Züge angenommen, so wirkte das gesamte Gesicht verzerrt und nicht mehr nett oder lieb.
»Was ist denn los?« Radmilla versuchte zu lächeln. »Du wolltest doch in mein Haus kommen. Jetzt bist du hier und…«
»Ich will wieder weg. Ich will zu meiner Mutti. Sie wartet auf mich!« Die Angst gab der kleinen Julia die nötige Kraft, sich herumzuwerfen und zur Tür zu rennen.
Sie kam nicht weit.
Eisenharte Finger gruben sich in ihre rechte Schulter. Sie hakten sich darin fest. Das Kind schrie auf. Es wollte sich durch ruckartige Bewegungen befreien, was ihm jedoch nicht gelang, denn Radmilla ließ die Kleine nicht mehr los.
Julia schrie. Sie wurde zurückgezerrt und stolperte dabei auf die Tür zu, die noch geschlossen war. Aber die Hexe dachte nicht daran, sie zu öffnen, sie hatte etwas ganz anderes mit dem Kind vor und schleuderte es so hart nach vorn, dass Julia gegen die Tischkante prallte und einen Schrei ausstieß.
Mit einem langen Schritt ging Radmilla auf das Kind zu. Julia kam nicht vom Fleck. Die Angst raubte ihr den Atem. Sie schaute auf diesen massigen Körper, der auf sie zukam. Für sie war die Hexe zu einer Riesin angewachsen.
Ein bösartiger Blick der stechenden Augen, der verzogene Mund.
Da war nichts mehr von einer weichen Schönheit zu erkennen. Es kam Julia vor, als hätte die Frau eine Maske von ihrem Gesicht gerissen.
»Auf so etwas wie dich habe ich gewartet. Es ist wunderbar. Überall habe ich meine Fallen aufgebaut. Die Häuser stehen auf den Märkten verteilt, und immer wieder kommen Kinder, um sie sich anzuschauen. Es ist leicht, eine Falle aufzubauen. Die Menschen sind so naiv. Sie kommen gern, aber sie wissen nichts.«
Julia hatte zugehört, nur verstand sie wenig von dem, was ihr da gesagt worden war. Sie schüttelte den Kopf, sie hob die Schultern an, sie zwinkerte, als wäre ihr etwas ins Auge geflogen, und sie begriff, dass sie in eine Falle gelaufen war.
»Bitte, bitte, nein, ich will das nicht! Ich will wieder nach Hause! Ich will zu meiner Mutter und…«
»Ich bin jetzt deine Mutter, verdammt!« Wütend schüttelte Radmilla den Kopf. »Hast du das immer noch nicht begriffen? Ich bin jetzt deine Mutter, verdammt!«
»Nein!« schrie Julia der Hexe ins Gesicht. »Das bist du nicht! Du bist nicht meine
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