1494 - Hexenhölle
als unnötig, denn das schwache Licht aus irgendwelchen Zimmern, bei denen die Türen offen stehen mussten, reichte aus, um eine dreistufige Treppe zu erkennen, die am Ende eines Flurs begann.
Immer noch drang kein fremdes Geräusch an unsere Ohren. Ich fühlte mich in diesem fremden Haus alles andere als wohl. Mein Bauchgefühl hatte sich verstärkt. Uns erwarteten hier gewiss einige besondere Überraschungen, noch verborgen in dieser bedrückenden Stille.
Cosima blieb dicht hinter mir. Gemeinsam stiegen wir die wenigen Stufen hoch. Danach verlängerte sich der Flur und fand genau dort sein Ende, wo eine Tür weit offen stand. Aus dem Zimmer fiel der Lichtschein bis zu uns.
»Was sagst du dazu?« flüsterte ich.
»Das ist es!«
»Was meinst du damit?«
»Wir sind richtig. Denk an das Bild. Nur das zählt, John. Deshalb sind wir hier.«
»Okay, ich bin gespannt.«
Ich hatte beim Eintreten daran gedacht, mich zu melden. Das war jetzt vorbei. Die Dinge hatten sich bereits zu einem Selbstläufer entwickelt, das bekamen wir wenig später zu sehen, als wir gemeinsam die Türschwelle überschritten.
Unser Blick fiel auf eine Wand. Neben mir hörte ich Cosimas leises Stöhnen, und sie brauchte mir den Grund nicht zu erklären, den sah ich selbst, als ich nach vorn schaute und mein Blick dabei eine Wand traf, an der es kein Fenster gab. Trotzdem war das Licht darauf konzentriert, und so konnten wir die Szene, die der Künstler geschaffen hatte, auch aus einer gewissen Entfernung sehen.
Man konnte von einem wuchtigen, von einem monumentalen Gemälde sprechen, das fast die gesamte Wandbreite einnahm. Mein erster Blick galt immer den Farben, und das war auch hier nicht anders. Meist konnte man schnell beurteilen, ob ein Bild freundlich und optimistisch gemalt worden war oder nicht.
Dieses hier zeigte eine Szenerie, die überwiegend von einem grünen Farbton beherrscht wurde. Es gab helle Flecken, aber auch die zeigten eine grünliche Färbung, die man oft auf alten Steinen oder Denkmälern fand, wenn sie lange den Kräften der Natur ausgesetzt waren.
Es war beim ersten Hinschauen schwer zu beurteilen, ob es sich um einen Friedhof oder um ein Schlachtfeld handelte. Wahrscheinlich traf hier beides zusammen. Ich sah Männer, die mit Lanzen bewaffnet waren, die an ihren Enden Kreuzen glichen. Die Erde um sie herum war aufgebrochen, Steinplatten zur Seite gekippt, und aus dem Boden krochen Gestalten, die man als Zombies oder lebende Leichen bezeichnen konnte. Schreckliche Wesen, oft halb verwest, die von Männern attackiert wurden. Das alles spielte sich im Vordergrund ab, und an der linken Seite war ein Geistlicher zu sehen, der etwas erhöht stand und seine Arme ausgestreckt hielt, als wollte er die Kämpfenden segnen.
Es gab noch einen Mittelteil. Er war erhellt. Da verlor die grüne Farbe ihre düstere Kraft, und dort – vielleicht auch außerhalb des Geländes – war ein Pfahl zu sehen, der aus einem flachen Reisighaufen hervorragte. An diesem Pfahl war eine Frau gebunden, deren dunklen Haare sich innerhalb der Szene als ein deutlicher Kontrast abhoben. Noch loderte kein Feuer.
Ich sah die Frau auf dem Bild, und ich sah sie neben mir stehen.
Die Kopfbewegung nach rechts folgte automatisch. Ich hatte vor, Cosima anzusprechen, überlegte es mir aber anders, als ich den Ausdruck in ihrem Gesicht sah.
Der Anblick des Gemäldes hatte sie stark mitgenommen. Sie stand da und war verkrampft. An ihrer Kehle bewegte sich die dünne Haut, die Folge davon, dass sie heftig schluckte.
Sie sprach nicht. Sie schaute nur auf sich selbst, und ich fragte mich, welche Gedanken wohl durch ihren Kopf gingen.
Würde ich hier die Erklärung für ihr Erscheinen finden?
Das war die große Frage, die mich im Moment jedoch überforderte. Ich wollte Cosima auch nicht durch meine Blicke stören und kümmerte mich deshalb wieder um das Gemälde.
Es gab noch die rechte Seite. Dort schwebte ein großes Gesicht über allem. Es war nicht so deutlich und mit scharfen Umrissen gemalt worden, aber es war vorhanden und nicht zu übersehen.
Ich schaute hin.
Ich blickte wieder weg, schaute noch einmal hin und saugte mit einem scharfen Atemzug die Luft ein.
Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber es entsprach den Tatsachen. Denn ich hatte den Menschen, dem dieses Gesicht gehörte, schon einige Male gesehen.
Nicht hier, dafür jedoch in der Vergangenheit, und den Namen flüsterte ich nur.
»Hector de Valois…«
***
Danach blieb ich still.
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