1494 - Jagd auf Gesil
Schritten auf sie zu. Sie durchquerte den eigenen Körper und nahm ihn mit. Für Sekunden bestand sie aus zwei Wesen, dann setzte sich das dominierende Ego durch.
Leila Changer kannte die andere Frau nicht. Den Namen „Gesil" hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört. Es gab keine Gesil. Sie vergaß diese Begegnung, denn sie spürte, wie ein neuer Anfall nahte.
Aber das war nicht alles. Die Schritte der unsichtbaren Verfolger wurden lauter und lauter. Sie mußte rennen...
Irgendwo dort unten mußte der Fluß sein. Vielleicht fand sie ein Boot, mit dem sie die Verfolger abschütteln konnte. Sie rannte durch die enge Gasse mit regennassem Kopfsteinpflaster. Eine Katze huschte vorbei und verkroch sich in einem glaslosen Fenster.
Ihr Atem ging schwer. Der Druck in ihrem Kopf wurde stärker. „Gib mir noch ein paar Minuten, Klirr-Klang-Gott", flehte sie. „Dann bin ich in Sicherheit."
Nichts wäre schlimmer gewesen als ein Anfall hier in dieser Gasse. Für die Verfolger wäre sie dann eine leichte Beute gewesen. Sie wußte nicht, warum sie gejagt wurde. Sie hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, was geschehen würde, wenn sie sie erwischten. Vielleicht wollten sie sie umbringen, vielleicht mißbrauchen, vielleicht foltern.
Leila Changer blieb stehen, denn ihre Kräfte waren am Ende. Sie lauschte. Die Schritte waren verstummt.
Hatte sie die Häscher wirklich abschütteln können? Oder warteten sie in einer der dunklen Seitengassen darauf, daß sie mit Geräuschen verriet, wo sie war?
Der Druck im Kopf wuchs weiter. Er brannte wie Feuer. Das waren die sicheren Anzeichen für den nahenden Anfall. Sie zerbiß eine weitere Phrenokapsel, um den Zeitpunkt des Überfalls der Angst weiter hinauszuschieben. Vermeiden konnte sie ihn sowieso nicht.
Dann setzte sie ihren Weg fort. Sie bewegte sich ganz leise. Ihren Körper drückte sie in die dunklen Schatten der Häuser. Aber der Druck und die Hitze in ihrem Kopf wurden stärker. Sie hatte nicht gewußt, daß sie so etwas ertragen konnte, ohne ohnmächtig zu werden.
Aber es kam noch schlimmer. Als sie die Gasse verließ und wenige Meter voraus in der Dunkelheit das Wasser des Flusses schimmerte, legte sich ein Arm von hinten um ihren Hals und zerrte sie in ein verfallenes Gebäude. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. „Du bist nicht allein", wisperte es dicht an ihrem Ohr. Wer da sprach, blieb ihr verborgen. „Du willst dich von deinen Ängsten befreien? Das ist einfach. Du brauchst es nur zu tun."
Ein Stoß traf Leila Changer im Rücken. Sie torkelte nach vorn in Richtung des Flusses.
D UBRA UCHST ES NUR ZU TUN. Sie vernahm diesen Satz, obwohl keine Stimme zu hören war.
Der Fluß war breit und kalt. Ein Boot war nirgends zu sehen. Sie blickte zurück. Die leeren Fenster der Häuser am Ufer glotzten sie mit pechschwarzen, viereckigen Augen an. Das Geklapper von Schritten kam näher.
Die Verfolger! Die grausamen Häscher!
Sie watete ein Stück in den Fluß hinein. Als ihr das Wasser bis zu den Knien reichte, blickte sie wieder zurück. Sie erkannte ihren Irrtum. Es handelte sich gar nicht um mehrere Verfolger. Ein einzelnes Wesen stand dort, und es hatte vier Beine. Das erschreckte sie nicht.
Sie wollte das Gesicht des Peinigers sehen, der sich seit ihrer Geburt auf ihre Spuren geheftet hatte. Aber an der Stelle war nur ein grauer Fleck. Als sich der Verfolger wieder in Bewegung setzte, erkannte sie einen weiteren Irrtum. Der graue Fleck stammte von einer verfallenen Fassade im Hintergrund. Der Häscher besaß gar keinen Kopf.
DU BRAUCHST ES NUR ZU TUN!
Der vierbeinige Koloß stapfte heran. Seine Arme hatte er ausgebreitet. Leila Changer machte einen Schritt rückwärts -und trat dabei in ein Loch auf dem Boden des Flusses. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte nach hinten. Das schlammige Wasser schlug über ihrem Kopf zusammen.
Ihre Hände und Füße fanden keinen Halt mehr. Sie fiel langsam durch das Wasser in den bodenlosen Abgrund. Ringsum war es dunkel. Die absolute Schwärze saugte die Angst aus ihrem Kopf, und als sie auf der mit bunten Blumen übersäten Wiese landete, war sie frei von allen Beschwerden. Eine warme Sonne trocknete schnell ihre Kleidung. Schmetterlinge tanzten vorbei, und hoch oben kreisten zwitschernde Vögel. „Es ist alles in Ordnung", sagte sie zu sich selbst. „Du hast es wieder einmal geschafft. Das hier ist eine andere Wirklichkeit, eine ohne Ängste. Und der Verfolger ist weit weg. Er wird Monate oder Jahre
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