15 Gruselstories
gestürmt. Seine linke Wange blutete; und er fuchtelte mit dem Rasierapparat herum.
»Was soll der Quatsch?« fragte er verdrießlich. »Warum schleichst du hinter mir her und erschreckst mich im Spiegel? Schau dir an, wie ich mich geschnitten habe! Ich finde das überhaupt nicht lustig!«
Sie lag noch im Bett und setzte sich bei seinen Worten ruckartig auf.
»Aber Schatz, wie soll ich dich erschreckt haben?« fragte sie verschlafen. Dann fuhr sie lebhafter fort: »Ich habe mein Bett überhaupt noch nicht verlassen.«
»Nein?« Er hob erstaunt die Augenbrauen. Nachdem er offensichtlich kurze Zeit angestrengt nachgedacht hatte, war auf seinem Gesicht ein bestürzter Ausdruck. »Na ja«, brummte er.
»Was, ›na ja‹?« Sie hatte die Decke beiseite geschleudert und saß auf der Bettkante. Während ihre Füße automatisch nach den Pantoffeln angelten, schaute sie ihn gespannt an. »Was ›na ja‹?« wiederholte sie.
»Ach nichts«, murmelte er, »gar nichts. Als ich beim Rasieren in den Spiegel guckte, hatte ich nur das Gefühl, daß du – oder sonst irgend jemand – mir über die Schulter siehst. Und zwar ganz plötzlich, verstehst du? Das muß wohl an den verdammten Lampen liegen. Ich werde gleich heute neue Birnen besorgen.«
Er tupfte sich mit dem Handtuch das Blut von der Wange und drehte sich um.
Sie holte tief Luft. »Ich hatte gestern abend dasselbe Gefühl«, sagte sie dann und biß sich sofort ärgerlich auf die Lippen.
»Was sagst du da?«
Sie nickte. »Ja, ja –« Dann fuhr sie hastig fort. »Es muß an den Lampen liegen. Du hast recht – es muß ganz bestimmt an den Lampen liegen.«
Er starrte gedankenverloren vor sich hin. Dann räusperte er sich geräuschvoll.
»Nun ja – was sollte es auch sonst sein? – Ich werde die neuen Birnen bestimmt nicht vergessen.«
»Das ist gut.« Sie nickte eifrig. »Bei der Einweihungsparty am Sonnabend muß alles in Ordnung sein.«
Aber es war noch lange nicht Sonnabend. Bis dahin geschahen noch einige Dinge, die sie mehr verwirrten, als sie sich gegenseitig eingestanden haben würden.
Als er am nächsten Morgen zur Arbeit gefahren war, machte sie sich daran, den Garten zu untersuchen. Der Anblick war alles andere als erfreulich. Der große Garten glich einem verwahrlosten Acker mit dunklen Bäumen, die eine drohende Haltung einzunehmen schienen. Der Herbstwind wirbelte die toten Blätter um das alte Haus. Sie stand auf einer kleinen Anhöhe und schaute nachdenklich auf die finsteren Hausgiebel aus einem anderen Jahrhundert.
Das eigenartige Gefühl, das sie beschlich, hatte nichts damit zu tun, daß weit und breit keine Menschenseele war und das Haus des nächsten Nachbarn eine halbe Meile entfernt an der einsamen schmutzigen Straße lag. Sie kam sich auf einmal wie ein unerwünschter Eindringling vor – ein Eindringling in die Vergangenheit. Der kalte Wind, die sterbenden Bäume und der finstere Himmel waren willkommen – sie gehörten zum Haus. Sie war der Außenseiter. Weil sie jung war. Weil sie lebte.
Das alles fühlte sie mehr, als daß sie es dachte. Solange sich ihr Verstand gegen diese Gedanken sträubte, konnte auch keine Angst bei ihr aufkommen. Die Angst, alleine zu sein, oder, was noch viel schlimmer war, die Angst, nicht alleine zu sein.
Denn gerade jetzt, als sie auf das Haus schaute, schloß sich die Tür.
Das war natürlich der Herbstwind. Selbstverständlich. Aber die Tür war weder zugefallen noch zugeschlagen. Sie hatte sich ganz einfach geschlossen. Aber trotzdem: Es war das Werk des Windes. Es mußte sein Werk sein! Denn es war keiner im Haus, der die Tür hätte schließen können.
Sie griff in die Tasche ihres Hauskleides. Dann zuckte sie die Achseln, denn ihr fiel ein, daß sie den Hausschlüssel in die Küche gelegt hatte.
Sie hatte nicht die Absicht
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