15 Gruselstories
geben. Es ist eine alte, geheime Geschichte der neuen Republik. Und die offiziellen Stellen, die sich an diese Geschichte erinnern, scheuen sich auch heute noch, der Sache nachzugehen.
Denn der Schlangenkult wird auf Haiti niemals aussterben; auf Haiti, dieser phantastischen Insel, deren gekrümmte Küstenlinie eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einer Schlange hat.
Einer der ersten Präsidenten von Haiti war ein gebildeter Mann. Er war zwar auf der Insel geboren, aber er war in Frankreich zur Schule gegangen und hatte dort sehr intensiv gelernt. Als er sein Regierungsamt auf Haiti übernahm, galt er allgemein als ein aufgeklärter, umsichtiger, moderner Mensch. Wenn er allein in seinem Büro war, zog er selbstverständlich seine Schuhe aus, aber er zeigte niemals seine nackten Zehen bei einer offiziellen Besprechung. Verstehen Sie das richtig: Dieser Mann war kein blaublütiger Herrscher – er war nur ein polierter pechschwarzer Gentleman, dessen natürliche Ursprünglichkeit ab und zu die Schranken der Zivilisation durchbrach.
Auf alle Fälle war er ein sehr gescheiter Mann, der genau wußte, was er wollte. Genauso mußte er auch sein, um es in jenen Tagen bis zum Präsidenten zu bringen. Nur besonders gescheiten Männern wurde diese Ehre zuteil. Man muß dazu nur wissen, daß das Wort ›gescheit‹ zu jener Zeit auf Haiti eine höfliche Umschreibung für ›rücksichtslos, korrupt und unehrlich‹ war.
Ihm sind während seiner kurzen Regierungszeit nur wenige Gegner entgegengetreten. Und die, die sich gegen ihn auflehnten, verschwanden für gewöhnlich. Hinter der niedrigen Stirn dieses großen, kohlrabenschwarzen Mannes mit dem Gorillagesicht verbarg sich ein scharfsinniges Gehirn.
Seine Fähigkeiten waren tatsächlich erstaunlich. Seine erste Tätigkeit war, sich einen genauen Einblick in die Finanzen des Landes zu verschaffen. Er profitierte von diesem Einblick sowohl dienstlich als auch privat. Immer wenn es ihm einfiel, die Steuern zu erhöhen, vergrößerte er zunächst einmal die Armee, damit auf jeden staatlichen Steuereintreiber zumindest ein bewaffneter Soldat kam. Seine Handelsabkommen mit anderen Ländern waren Meisterstücke ungesetzlicher Legalität. Dieser schwarze Machiavelli wußte genau, daß er es schnell zu etwas bringen mußte, denn die Präsidenten von Haiti hatten alle das Pech, nicht lange am Leben zu bleiben. Dieser Präsident arbeitete wahrlich schnell, und er verrichtete ganze Arbeit.
Im Hinblick auf seine bescheidene Herkunft war das wirklich sehr bemerkenswert. Sein Vater war unbekannt. Seine Mutter war eine Hexenmeisterin in den Bergen, die – obwohl sie sich einiger Beliebtheit erfreute – sehr arm war. Der Präsident war in einem altersschwachen Blockhaus geboren worden. Das vereinbarte sich alles so prächtig mit seiner zukünftigen Würde als Präsident! Seine Kindheit verlief bis zu dem Tage sehr eintönig, als ihn ein mildherziger protestantischer Pfarrer adoptierte. Er war damals dreizehn. Er lebte ein Jahr lang im Hause dieses gütigen Mannes und machte sich als Mädchen für alles nützlich. Dann wurde der arme Priester krank und verschied nach längerem Leiden. Das war um so bedauerlicher, weil er recht wohlhabend gewesen war, seine Krankheit aber das ganze Geld verschlungen hatte. Wie dem auch sei: Der reiche Priester starb, und der arme Sohn der Hexenmeisterin dampfte nach Frankreich ab, um dort die Universität zu besuchen.
Was die Hexenmeisterin angeht, so kaufte sie sich einen neuen Maulesel und sagte zu der ganzen Entwicklung kein einziges Wort. Durch ihre Geschicklichkeit
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