15 Gruselstories
nächsten Abend Zeit hatte und in den Kerker ging, um seine Mutter zur Rede zu stellen, mußte er feststellen, daß sie nicht mehr da war. »Sie ist verschwunden«, murmelten die Wachen und verdrehten die Augen. Er ließ den Kerkermeister erschießen und ging dann in seine Amtsräume zurück. Die Sache mit dem Verfluchen beunruhigte ihn ein wenig. Er wußte, wozu seine Mutter fähig war. Die Drohungen, die sie gegen seine Frau ausgestoßen hatte, gefielen ihm gar nicht. Nach einigen Überlegungen ließ er am nächsten Tag ein paar Silberkugeln gießen und besorgte sich von einem Wunderarzt, den er kannte, einige wirksame Kräuter. Er würde die Zauberei mit Zauberei bekämpfen.
Nachts erschien ihm in seinen Träumen eine riesige Schlange mit grünen Augen, die ihm menschliche Worte zuflüsterte. Als er im Schlaf nach ihr schlug, zischte sie schrill und höhnisch. Am nächsten Morgen war sein Schlafzimmer von Schlangengeruch erfüllt, und auf seinem Kopfkissen waren Schleimspuren, von denen derselbe Gestank ausging. Da wußte der Präsident, daß ihn nur seine Wunderkräuter gerettet hatten.
Am Nachmittag berichtete ihm seine Frau, daß sie einige ihrer Pariser Modellkleider vermisse. Darauf nahm sich der Präsident seine Diener vor und befragte sie in seiner privaten Folterkammer. Er wagte seiner jungen Frau nicht zu sagen, was er zu hören bekommen hatte, aber er machte danach einen niedergeschlagenen Eindruck. Er hatte früher schon erlebt, wie seine Mutter mit kleinen Wachsfiguren herumhantierte. Diese Figuren waren das Ebenbild von irgendwelchen lebenden Personen gewesen und in Stücke der gestohlenen Kleidung gehüllt. Manchmal steckte seine Mutter Nadeln in die Wachsfiguren, und manchmal röstete sie sie langsam über einem offenen Feuer. Und immer wurden dann die Personen, die sie darstellten, krank und starben. Durch dieses Wissen wurde der Präsident jetzt sehr unglücklich. Und als er von den zurückkehrenden Boten erfuhr, daß seine Mutter ihre Hütte verlassen und sich in die Berge zurückgezogen hatte, fand seine Unruhe keine Grenzen.
Drei Tage danach starb seine Frau an einer schmerzenden Wunde in der Seite, für die kein Arzt eine Erklärung fand. Sie kämpfte bis zum Ende verzweifelt um ihr Leben, und man sagt, daß ihr Körper kurz vor dem Tode blau wurde und fast zur doppelten Größe anschwoll. Ihr Gesicht sah so aus, als wäre es von der Lepra zerfressen, und nach ihren geschwollenen Gelenken zu urteilen, hätte sie ein Opfer der Elephantiasis sein können. Diese ekelhaften Tropenkrankheiten wüteten auf Haiti, aber keine von beiden führte innerhalb von drei Tagen zum Tode …
Nach diesem Ereignis schäumte der Präsident vor Wut.
Er befahl eine Hexenverfolgung, die nur im Mittelalter ihresgleichen gefunden hätte. Polizei und Soldaten durchkämmten die Küstengebiete, Späher ritten zu den Hütten in den Bergen hinauf, und bewaffnete Patrouillen stießen in die abgelegenen Gebiete vor, in denen die Hexen und Teufelsanbeter hausten und mit glasigen Augen unaufhörlich den Mond anstarrten. Die Mamalois wurden bei der Befragung über offenes Feuer gehalten und die Besitzer von verbotenen Büchern über einer Flamme geröstet, die von eben diesen verbotenen Büchern genährt wurde. Bluthunde jaulten in den Bergen, und die Priester starben an den Altären, an denen sie sonst ihre Opfer darzubringen pflegten. Die Häscher hatten völlig freie Hand. Es gab nur einen einzigen Sonderbefehl: Die Mutter des Präsidenten sollte lebend gefaßt und ihr sollte nichts angetan werden.
Der Präsident saß im Palast und wartete.
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