15 Gruselstories
zahlte und trug die Gläser zu einer der Nischen. Wir leerten sie in einem Zuge. Der Alkohol rann angenehm wärmend durch unsere Kehlen.
Daraufhin ging ich zur Theke und kaufte die ganze Flasche. Während Sir Guy und ich uns jetzt selber einschenkten, ließ sich der gewaltige Neger hinter der Theke auf einen Stuhl fallen und döste vor sich hin. Ein halb offenes wachsames Auge ruhte allerdings ständig auf uns.
Die Uhr über der Theke tickte. Wir hörten draußen den Wind pfeifen. Er nahm rasch an Stärke zu und zerriß die dichte Nebelwolke in Schwaden. Aber Sir Guy und mir konnte er nichts anhaben. Wir saßen geborgen in unserer warmen Nische und tranken Gin.
Der Alkohol löste Sir Guys Zunge. Er redete unaufhörlich.
Zunächst einmal erzählte er mir all das, was ich schon langsam auswendig kannte. Er erzählte es so ausführlich, als hätte ich noch nie etwas davon gehört. So sind die armen Teufel eben, die von einer Idee besessen sind.
Ich hörte ihm geduldig zu. Ich schenkte ihm noch einen Gin ein. Und noch einen.
Aber der Redestrom brach nicht ab. Ganz im Gegenteil. Er steigerte sich immer mehr in dieses Thema hinein. Er äußerte sich lang und breit über rituelle Morde und über die unnatürliche Verlängerung des Lebens. Und natürlich wiederholte er pausenlos, daß er überzeugt wäre, daß sich Jack the Ripper heute nacht in diesen Gassen herumtreibe.
Es wäre besser gewesen, ihn nicht weiter anzuspornen, aber ich konnte es mir nicht verkneifen.
»Alles schön und gut«, sagte ich und konnte nicht verhindern, daß meine Stimme etwas ungeduldig klang. »Wenn wir einmal annehmen, daß Ihre Theorie stimmt wobei wir allerdings jede menschliche Vernunft außer acht lassen müssen –, aber nehmen wir einmal der Diskussion als solcher zuliebe an, daß Sie recht haben. Dann ist also Jack the Ripper der Mensch, der entdeckt hat, daß man sein Leben durch Blutopfer verlängern kann. Dann reist er – wie Sie glauben – in der Weltgeschichte herum und hält sich zur Zeit mit Mordabsichten hier in Chicago auf. Mit anderen Worten, nehmen wir einmal an, daß Ihre Theorie in allen Punkten mit der Wirklichkeit übereinstimmt … Na und?«
»Was ›na und‹?« fragte Sir Guy.
»Genau das: na und?« antwortete ich. »Wenn das alles wahr sein sollte – müßte man es beweisen. Das kann man kaum, wenn man in einer schmierigen Kneipe sitzt und eine Ginflasche vor sich hat. Die Chancen, daß sich Jack the Ripper hier ebenfalls aufwärmen will und Sie ihn dann der Polizei übergeben können, sind sehr gering. Bei dieser Vorstellung fällt mir ein, daß ich nicht die leiseste Ahnung habe, was Sie mit ihm anstellen würden, wenn Sie ihn wirklich fänden.«
Sir Guy leerte sein Glas. »Ich würde dieses blutige Schwein festnehmen«, stieß er hervor. »Dann würde ich ihn zusammen mit allen Dokumenten und Beweisen, die ich in langen Jahren gesammelt habe, der Polizei übergeben. Ich habe für die Nachforschungen ein Vermögen ausgegeben. Glauben Sie mir: ein Vermögen! Ich bin überzeugt davon, daß durch seine Gefangennahme Hunderte von unaufgeklärten Verbrechen aufgeklärt würden.
Glauben Sie mir doch, daß ein verrücktes Ungeheuer heute noch frei herumläuft; ein zeitloses Ungeheuer, das der Mondgöttin Hekate Menschenopfer entgegenbringt!«
In vino veritas? Oder hatte er einfach zuviel Gin getrunken? Mir war es egal. Ich füllte sein Glas wieder und sann darüber nach, was ich mit ihm machen sollte. Eins stand fest: Sir Guy Hollis war sturzbetrunken.
Während ich nachdachte, fragte ich ihn: »Eins müssen Sie mir noch erklären. Weshalb glauben Sie eigentlich, daß Ihnen Jack the Ripper über den Weg läuft?«
»Er wird es! Ich weiß es!« murmelte Sir Guy. »Ich bin ein
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