15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan
nähere.
Jetzt war es, daß die Frau uns auf ihn aufmerksam machte. Meinetwegen hätte sie das nicht zu tun gebraucht, denn ich stand so, daß ich ihn bereits von weitem sehen konnte, und hatte auch während des Gespräches den Blick nur wenig von ihm gelassen.
Die andern drehten sich nach ihm um.
„Ja, der Mübarek!“ sagte der Türke. „Effendi, das ist er. Sieh dir ihn genau an.“
„Ich habe es bereits getan.“
„Nun kannst du seine Gebeine klappern hören!“
„Wollen sehen. Vielleicht tut er uns auch den Gefallen, zu verschwinden.“
„Wenn er will, so kann er es.“
„Sage es ihm, daß er es tun soll!“
„Das wage ich nicht.“
„Warum nicht?“
„Er könnte es mir übelnehmen.“
„Pah! Er kennt dich ja!“
„Das trägt nichts dazu bei.“
„Und hat bei dir viel Geld verdient.“
„Dafür hat er uns geheilt. Er ist uns keine Gefälligkeit schuldig.“
Jetzt war der alte ‚Heilige‘ herbeigekommen. Er ging sehr, sehr langsam an uns vorüber, ohne den Blick von der Erde zu erheben. Die beiden Frauen standen ehrfurchtsvoll da. Der Türke erhob die Hände zum Gruß. Wir andern aber kümmerten uns scheinbar nicht um ihn. Ich tat ganz so, als ob ich ihn gar nicht bemerkte, hatte mich halb abgewendet, behielt ihn aber scharf im Auge.
Dabei bemerkte ich, daß er den Blick unter den gesenkten Wimpern hervor auf uns gerichtet hielt. Seine Insichversunkenheit war also nur Maske. Tat er das stets so, oder mußte ich dieses Verhalten, dieses heimliche Schielen auf mich allein beziehen?
Ich horchte sehr gespannt, und wirklich, indem er vorüberging, ließ sich bei jedem Schritt, den er tat, ein leises Klappern hören, grad als wenn Knochen sich berühren. Einen nicht ganz unbefangenen oder gar von Vorurteilen befangenen Menschen konnte das allerdings mit einem gelinden Schauder erfüllen.
Er ging so gekleidet, wie der Türke es gesagt hatte: barfuß, mit einem Tuch auf dem Kopf und den Leib in einen alten Kaftan gehüllt. Von dem Shawl war nichts zu sehen, da der Kaftan vorn übereinander ging.
Er war außerordentlich hager, mit tief eingesunkenen Augen, wie der Bettler, an welchem wir vorübergekommen waren. Sein knochiges Gesicht war erdfarben. Die Backenknochen standen weit vor, und der Mund war eingefallen. Der Alte konnte allerdings keine Zähne mehr haben. Die Mundgegend glich einer tief in das Gesicht eingeschnittenen Bucht, unter welcher das spitze Kinn sich weit nach vorn schob und die Nase in doppelter Schärfe hervortrat.
Das also war der berühmte ‚Heilige‘, welchen Allah mit so vielen geheimen und wunderbaren Gaben gesegnet hatte.
Er ging vorüber wie ein Dalai-Lama, für welchen andere Menschen so verächtliche Geschöpfe sind, daß sein Blick sie gar nicht zu bemerken vermag. Auch ihn – eigentümlicher Weise kam es mir so vor – mußte ich bereits gesehen haben, und zwar unter Umständen, welche für mich nicht angenehm gewesen sein konnten. Dieses Gefühl regte sich in mir.
Wenn ich der Ansicht gewesen war, daß er uns seine Beachtung ganz und gar entziehen würde, so hatte ich mich geirrt. Schon war er einige Schritte vorüber, da drehte er sich plötzlich um und ließ seinen stechenden Blick über unsere Gruppe schweifen; dann erschallte seine schnarrende Stimme:
„Nebatja!“
Die Pflanzensucherin zuckte zusammen.
„Nebatja! Hierher!“
Er deutete mit dem Zeigefinger vor sich zur Erde nieder, ungefähr wie man einen Hund heranruft, der geprügelt werden soll.
Die Frau schritt langsam und ängstlich zu ihm hin. Sein Blick richtete sich drohend auf sie, so scharf, als hätte er sie durchbohren wollen.
„Wie lange ist dein Mann nun tot?“ fragte er sie.
„Drei Jahre.“
„Hast du für seine Seele gebetet?“
„Täglich.“
„Er war kein Anhänger des ruhmreichen Propheten, dessen Namen zu heilig ist, als daß ich ihn vor deinen Ohren nennen möchte; er war ein Nusrani, der Bekenner einer andern Lehre. Er gehörte zu den Christen, welche selbst nicht wissen, was sie glauben sollen, weshalb sie sich in viele Sekten spalten und sich untereinander befehden. Doch Allah hat in seiner Barmherzigkeit beschlossen, daß auch sie in die untersten Abteilungen des Himmels gelangen dürfen. Dein Mann aber wird in dem Feuer der Hölle gebraten!“
Er schien eine Antwort zu erwarten; die Frau aber schwieg.
„Hast du es gehört?“ fragte er.
„Ja“, antwortete sie leise.
„Und glaubst du es?“
Sie schwieg.
„Du mußt es glauben, denn ich selbst
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