15 Tante Dimity und die Geister am Ende der Welt (Aunt Dimity Down Under)
natürlich der Versuchung erliegen, ihren Kummer in der nächsten Kneipe zu ertränken. Aber Bree hat ja bislang keinerlei Anzeichen gezeigt, dass sie ihrem Vater auf seinem zerstörerischen Weg folgen wird. Das alles stimmt mich hoffnungsfroh.
» Machst du dir keine Sorgen wegen der Tattoos?«, fragte ich.
Nicht im Geringsten. Bree ist Neuseeländerin, und Tattoos sind dort etwas ebenso Normales wie Schafe. Wenn sie ihren Körper mit Totenköpfen oder satanischen Symbolen geschmückt hätte, wäre ich vielleicht besorgt, aber sie hat sich Blumen ausgesucht. Sich als rebellische Geste Blumen in die Haut stechen zu lassen, finde ich recht harmlos.
» Und was hältst du davon, dass sie Ruru vergessen hat?« Ich schaute zu Reginald hinüber, der auf dem Nachttisch saß und seinen neuen Bekannten freundlich ansah. » Es müsste mir sehr schlecht gehen, wenn ich Reg vergäße.«
Aber es geht Bree schlecht. Katharsis mag gut für die Seele sein, Lori, aber sie ist kein Allheilmittel. Brees Probleme sind ja nicht gelöst, ich glaube nur, dass sie nicht in unmittelbarer Gefahr schwebt, sich etwas anzutun. Sie war bestimmt ziemlich durcheinander, als sie die Wohnung verließ. Ich bin sicher, dass sie es schwer bedauert hat, als sie merkte, dass sie Ruru vergessen hatte. Zum Glück hat sie ja nun einen Ruru auf der Schulter.
» Eine Tätowierung ist kein Ersatz für eine weiche, flauschige Eule«, sagte ich.
Vielleicht nicht, aber einer meiner Kiwi-Soldaten hat mir erzählt, dass die Maori den Ruru als eine Art Schutzgeist betrachten. Wir können nur hoffen, dass Brees Tattoo sie beschützt, bis du ihr ihren kleinen Freund überreichen kannst.
» Wir fliegen morgen nach Queenstown«, berichtete ich. » Wenn Bree dort auch nicht mehr ist, muss ich vermutlich auch eine Menge aufgestauter Aggressionen loswerden.«
Es wird deiner Seele guttun. Jetzt gönne dir etwas Schlaf. Es gibt Leute, die behaupten, dass es nichts Aufregenderes gibt als einen Start vom Flughafen in Wellington.
Mir fielen fast die Augen zu, während Dimitys letzte Sätze verblassten. Ich schloss das Notizbuch und legte es auf den Tisch.
» Nenn mich Weichei«, murmelte ich Reginald zu. » Aber die Aussicht auf einen weiteren aufregenden Flug erfüllt mich nicht gerade mit Freude.«
Ich streichelte ihm und Ruru über den Kopf, machte das Licht aus und fiel in einen unruhigen Schlaf, in dem ich mich fragte, welche Schrecken Neuseeland noch für mich bereithielt.
Wir hoben in Seitenlage ab. Ich hatte nicht gewusst, dass ein Flugzeug in Seitenlage starten kann, bis wir im Zickzack-Kurs über die Rollbahn rasten und schräg in die Luft stiegen. Danach hatte ich jeden Lebenswillen verloren.
» Jetzt wissen Sie, warum man es das windige Wellington nennt.« Cameron stieß ein Lachen aus, das ich zu diesem Zeitpunkt nur als wahnsinnig bezeichnen konnte. » Die Nordinsel und die Südinsel werden durch die Cook-Straße getrennt, die wie ein Windtunnel wirkt. Gestern war das Wetter ungewöhnlich ruhig, heute ist es business as usual.«
» Ich Glückspilz«, krächzte ich. Aus irgendeinem Grund war mein Mund ganz trocken.
» Von nun an wird die Reise ruhig«, versicherte er. » Vor uns nichts als blauer Himmel.«
» Und unter uns das blaue Meer«, sagte ich und schaute zu den weißgekrönten rollenden Wellen der Cook-Straße hinunter. » Haben Sie Schwimmwesten an Bord?«
» Entspannen Sie sich, Lori«, sagte er. » Das Beste kommt noch.«
» Präzisieren Sie › das Beste‹«, sagte ich misstrauisch.
» Neuseeland hat vier Millionen Einwohner«, erklärte er. » Davon lebt nur eine Million auf der Südinsel. Sie ist kaum besiedelt und fast unberührt. Mit einem Wort– unglaublich. Sie werden es selbst sehen.«
Und ich sah. Ich sah die südlichen Alpen, eine majestätische Bergkette mit rasiermesserscharfen Kämmen, die sich über die gesamte Länge der Südinsel zogen. Ich sah Bergseen unter mir vorbeihuschen, Wasserfälle und Gletscher und den glitzernden Gipfel von Mount Aspiring. Ich sah Aoraki, auch Mount Cook genannt, Neuseelands größten Berg, an dem Sir Edmund Hillary Klettern geübt hatte, bevor er sich an den Everest wagte. Ich sah Wolken, die sich wie ein Foto im Lake Tekapo spiegelten, und betrachtete staunend einen von nackten Felswänden eingerahmten Fjord namens Milford Sound, ein Paradies für Pinguine, Robben, Delphine und Busladungen von Touristen. Ich sah so viel atemberaubende Schönheit, dass ich mir von ganzem Herzen die
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