1508 - Der Templerjunge
nicht. Entweder oder…«
»Ich habe Angst«, sagte er leise.
»Das weiß ich. Das kann ich auch verstehen. Aber über diesen Graben musst du springen. Suko und ich, wir beide werden versuchen, dir zu helfen, und ich denke, dass wir es auch schaffen können. Gemeinsam müssten wir die Stärke haben, um gegen das Erbe deines Vaters anzugehen. Verstehst du das?«
»Ja, das ist mir schon klar.«
»Wunderbar«, sagte ich. »Dann werden wir von nun an in deiner Nähe bleiben. Ich gehe mal davon aus, dass dieser de Lacre dich unter Kontrolle hält. Er will wissen, was du tust. Er will deine Reaktionen beobachten, und er will auch keine Niederlagen mehr erleben. Es wird kein Kinderspiel sein, und es ist möglich, dass wir alle in große Gefahr geraten. Dieses Risiko müssen wir aber auf uns nehmen. Deine Zukunft ist es wert, wenn du verstehst, Imre. Habe ich mich in dieser Richtung hin klar genug ausgedrückt?«
»Ja, das haben Sie.«
»Dann bin ich zufrieden, mein Junge. Ich weiß nicht, wie dein Tagesablauf aussieht, aber ich gehe mal davon aus, dass wir in deiner Nähe bleiben, denn du bist der Mittelpunkt.«
»Der will ich gar nicht sein«, flüsterte er.
»Das kann ich mir denken. Es ist aber nun mal so. Das Schicksal hat entsprechend entschieden.«
Marita Kovec meldete sich. »Ich möchte dazu noch etwas sagen, Mr Sinclair.«
»Bitte.«
»Es soll ein normaler Tag für uns werden. Der Jahrmarkt hat bereits geöffnet. Ich wäre jetzt an meinen Platz gegangen und hätte die Plane geöffnet. Wenn das der Fall ist, wissen die Kunden, dass sie mich konsultieren können. Ist die Plane aber geschlossen, so wie jetzt, dann weiß man, dass ich einen Kunden habe und sie warten müssen. Es steht aber auch an beiden Zeltseiten.«
Ich tauschte mit Suko einen Blick. Gemeinsam beratschlagten wir, ob wir alles so normal wie möglich weiterlaufen lassen sollten, und Suko nickte.
Marita Kovec hatte die Bewegung gesehen.
»Ja, dann bleibt es dabei, meine Herren. Obwohl ich Ihnen sagen muss, dass es mir sehr schwerfallen wird. Zu meiner Arbeit gehört eine sehr starke Konzentration, die ich aufbringen muss. Ich darf mich von nichts ablenken lassen, verstehen Sie? Der geringste Gedankensprung würde mich aus dem Konzept bringen, und das würden meine Kunden merken.«
»Ja, aber das müssen wir in Kauf nehmen. Sie können ja sagen, falls es zu schlimm wird, dass sie sich nicht gut fühlen. Ich denke schon, dass man dafür Verständnis haben wird.«
Sie schaute auf ihren Sohn. »Ja«, stimmte sie zu, »ich sehe im Moment auch keine andere Möglichkeit. Dann müssen wir es eben durchziehen.«
Sie lächelte Imre zu und sagte: »Gemeinsam schaffen wir es schon.«
Der Junge nickte.
Suko hatte ihn dabei beobachtet, und ich bemerkte an der Reaktion meines Freundes, dass etwas nicht stimmte. Ich fragte ihn nicht, sondern kümmerte mich um Imre.
Er sagte nichts und stand auf der Stelle. Aber er machte den Eindruck eines Menschen, der mit seinen Gedanken nicht bei der Sache ist. Seine Stirn hatte sich in leichte Falten gelegt. Er schaute ins Leere, aber gedanklich schien er sich mit etwas zu beschäftigen. Es war auch zu sehen, dass sich ein Schauer auf seiner Haut bildete.
Ich sprach ihn an.
»Was hast du, Imre?«
Er schüttelte den Kopf, und ich ließ ihn zunächst mal in Ruhe. Etwa eine Minute verstrich, da bewegte er sich. Er ging nicht auf den Ausgang zu, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Er machte eine Kehrtwendung nach links und stand plötzlich an der anderen Seite des Tisches seiner Mutter direkt gegenüber.
Sie wollte ihn schon ansprechen, sah aber unsere Handbewegungen und schwieg.
Dann wartete wir darauf, was der Junge tat. Er überraschte uns, auch seine Mutter, deren Augen sich weiteten, als sie erkennen musste, dass Imre seine Hände um die Glaskugel legte, die auf dem Tisch stand.
Für Suko und mich stand er ungünstig. Sein Körper nahm uns die Sicht auf die Kugel, deshalb wichen wir zur Seite aus, um alles mitzubekommen.
Der Junge bewegte sich nicht. Seine Hände lagen weiterhin auf der Kugel, die seit alters her zum Inventar einer Hellseherin gehörte und eigentlich nur Staffage war.
In diesem Fall schien das nicht so zu sein. Imre hatte mit der Kugel etwas vor, und das bewies er in den folgenden Sekunden, als zuerst ein Ruck durch seinen Körper ging und er dann die Kugel anhob.
Es war ein wichtiger Moment, das ahnten wir und bekamen wenig später die Bestätigung, denn Imre fing an zu
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