1517 - Die Mondhexe
»Hinter Ihnen. Unten im Parterre befindet sich die Halle. Darüber wohnen Menschen. Die Halle haben die Weiber gemietet.«
»Viel halten Sie nicht von ihnen - oder?«
»Nein, das sind Spinnerinnen.«
»Sind sie auch gefährlich?«
»Weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie die Halle gemietet.«
»Waren Sie schon mal darin?«, fragte ich weiter.
»Kaum. Die schotten sich ab. Aber die Chefin oder Anführerin wohnt hier bei uns.«
»Ist es Doreen Anderson?«
Der Mützenträger schaute Suko an. »Ja, das stimmt. Die heißt Doreen Anderson.« Er winkte mit beiden Händen ab. »Das ist schon eine komische Frau.«
»Wieso?«
»Die rennt immer in Klamotten rum, die unsereiner nicht anziehen würde. Die habe ich nie ohne ihr Gewand gesehen. Das lässt sie bestimmt noch im Bett an.«
»Sonst haben Sie keinen Kontakt zu ihr?«
»Nein, keiner von uns. Die Anderson bekommt nur des Öfteren Besuch, und das sind nur Frauen. Die liegen wohl alle auf der gleichen Linie.«
»Wenn Sie das sagen.«
»Ja, das ist so. Die treffen sich und meditieren oder was auch immer sie machen.«
»Wir hörten davon, dass sie sich die Mondfrauen nennen«, fuhr Suko fort. »Kennen Sie sich da auch aus?«
»Klar. Einmal im Monat sehe ich ihn voll. Aber was diese Weiber wirklich wollen, da muss ich passen.«
»Ist diese Mrs Anderson denn jetzt da?«
»Bestimmt.«
Wir drehten uns um und schauten an der Rückseite des Gebäudes hoch, an der es keine Fenster gab. Dort war nur graues Mauerwerk. Die Fenster der Turnhalle hatten wir an der Frontseite gesehen. Sehr groß, aber auch sehr grau, sodass man nicht hindurchschauen konnte. Und hier begannen die Fenster erst in der ersten Etage. Sie hatten eine normale Form, weil sie zu den Wohnungen gehörten.
Ich sah an der Rückseite mehrere Türen, die zu den einzelnen Häusern führten. Deshalb wollte ich wissen, ob es auch eine gab, die uns in die Turnhalle hineinbrachte.
»Kein Problem«, wurde uns erklärt, »aber die hier sind abgeschlossen. Sie müssen es schon vorn versuchen.«
»Gut, und den Wagen lassen wir hier stehen.«
»Ist schon okay. Man hilft der Polizei ja gern.« Dann grinste der Mann.
»Ich habe einen Schlüssel. Kommen Sie.«
»Danke.«
Wir brauchten nicht durch die Einfahrt. Der Mann hatte zu uns Vertrauen gefasst. Er schloss eine Hintertür auf, und wir schauten in einen halbdunklen Flur hinein, dessen Boden und Wände mit alten Fliesen und Kacheln bedeckt waren.
»Das ist normalerweise nicht unser Eingang, und die Mondfrauen wissen auch nicht, dass ich mir einen Schlüssel habe nachmachen lassen. Deshalb verraten Sie mich bitte nicht.«
»Das werden wir auf keinen Fall tun«, versprach ich ihm und fragte: »Was ist mit den anderen Leuten, die hier im Haus über der Turnhalle leben?«
»Die nehmen einen anderen Eingang.«
Ich nickte.
Der Mann ließ uns allein, und wir schritten durch den kühlen Flur, was uns nach der Wärme draußen gut bekam.
Wer die Turnhalle betreten wollte, musste hier durch den Flur und dann klingeln. Die große Schelle war nicht zu übersehen. Ihr schwarzer Knopf war von einem gelben Kreis umgeben, der wohl so etwas wie einen stilisierten Mond darstellen sollte.
Es gab hier auch keine Treppe nach oben. Die dicken Wände schluckten alle von außen kommenden Geräusche.
Über der Klingel stand kein Name, aber wir wussten, dass wir hier richtig waren.
»Dann wollen wir mal«, sagte Suko und presste seinen Daumen auf den Knopf. »Mal sehen, ob wir Glück haben.«
Das traf tatsächlich zu, denn kurze Zeit später schon wurde die Tür geöffnet.
»Bitte, die Herren?« Eine weiche Frauenstimme stellte die Frage, und wir sahen uns einer Person gegenüber, die wir bereits vom Gesicht her aus dem Internet kannten.
Das musste Doreen Anderson sein, denn eine normale Frau lief nicht so herum. Sie trug kein Kleid, sondern tatsächlich ein Gewand, dessen Saum fast bis zum Boden reichte. Zumindest schwebte er dicht über ihren Schuhen.
Die Frau sah alterslos aus, wenn man davon ausging, dass sie jenseits der fünfzig war. Schlohweißes Haar, ein sonnenbraunes Gesicht mit zahlreichen Falten, die wie in die Haut eingeritzt aussahen. Dünne Lippen hoben sich kaum von der Gesichtsfarbe ab. Das Haar wallte wie ein weißer Schleier um ihren Kopf, und als ich in die Augen blickte, war ich beinahe enttäuscht, keine gelbe Farbe zu sehen, sondern eher eine blaugraue.
In der oberen Hälfte hatte das Gewand einen recht großen Tropfenausschnitt, sodass noch
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