1519 - Das Leichenbild
schaffst du«, erklärte er ihr. »Ich weiß genau, dass du es schaffen wirst.«
Sandra brach innerlich zusammen. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Sie schluchzte auf, und dann sah sie, dass Gerry seinen Vorschlag in die Tat umsetzen wollte, denn er drehte sich auf der Stelle um und nahm die Tür ins Visier.
»Bitte, Gerry…«
Shannon hörte nicht. Mit steifen Schritten überquerte er die Türschwelle.
Er sagte nichts mehr, und im Flur drehte er sich nach links, um die Treppe zu erreichen.
Sekunden vertickten.
Sandra bewegte sich nicht. In ihrem Innern wusste sie, dass bald etwas Schreckliches passieren würde, gegen das sie sich nicht wehren konnte.
Von ihrer verstorbenen Tochter hörte sie nichts mehr. Die hatte alles gesagt, was gesagt werden musste, doch dann vernahm sie etwas und zuckte dabei zusammen.
Es war der Schrei - Gerrys Schrei!
Und er hörte sich an, als befände sich ihr Mann in Todesgefahr!
Jetzt rannte Sandra los.
Ein Sprung brachte sie in den Flur, und dort sah sie, was geschehen war.
Gerry hatte nicht die Spur einer Chance gehabt. Er war von einer unsichtbaren Kraft gepackt und in die Höhe gerissen worden. So schwebte er waagerecht und mit ausgestreckten Armen über der steilen Treppe.
Sandras Gesicht zeigte einen verzerrten Ausdruck. Das Begreifen fiel ihr schwer, und dann brüllte sie einfach los.
Es war der Augenblick, auf den der Geist gewartet zu haben schien, denn Gerry wurde losgelassen und schlug mit voller Wucht auf die Treppenstufen…
***
Sandra Shannon erlebte einen Albtraum. Eine andere Bezeichnung hatte sie nicht dafür. Da wurde ihr Mann zum Spielzeug einer fremden, bösartigen Macht.
Der Aufprall war mit einem schrecklichen Geräusch verbunden. Sandra hörte noch den leisen Schrei, den ihr Mann ausstieß, und das tat ihr verdammt weh.
Natürlich blieb er nicht auf der steilen Treppe liegen. Die Aufprallwucht trieb ihn nach vorn, und er veränderte seine Haltung, denn er rutschte nicht glatt nach unten, sondern überschlug sich mehrere Male.
Sandra konnte ihm nur nachschauen, und bei jedem Aufprall zuckte sie zusammen.
Nach der letzten Stufe trieb ihn die Kraft noch durch den Flur, und erst neben der Haustür kam er zur Ruhe, wobei er noch mit der Schulter gegen die Wand prallte.
Dann wurde es still!
Auch Sandra war nicht in der Lage, einen Ton von sich zu geben. Sie wäre gern die Treppe hinab gelaufen, um nach ihrem Mann zu sehen, aber sie packte es einfach nicht.
Für sie war es besonders schlimm, dass ihr Mann sich nicht mehr bewegte und keinen Laut von sich gab. Er wirkte wie tot, und als Sandra genauer hinschaute, fielen ihr die roten Flecken auf den hellen Treppenstufen auf.
Es war Gerrys Blut!
Endlich war sie wieder in der Lage, sich zu bewegen. Die Starre war von ihr abgefallen, und sie versuchte es mit den ersten Schritten. Doch das ließ die Tochter nicht zu.
Sie meldete sich wieder, und Sandra hörte die Stimme dicht an ihrem rechten Ohr.
»Willst du auch seinen Weg gehen?«
Es war schon unerklärlich, doch Sandra Shannon fühlte sichauf einmal stark.
In diesem Moment hatte sie in ihrem Innern mit Amy gebrochen. Sie sah sie nicht mehr als ihre Tochter an »Geh!«, sagte sie laut und deutlich. »Verlasse unser Haus für immer. Du hast hier nichts mehr zu suchen. Die Zeiten, da es auch dein Heim war, sind vorbei. Und auch als deine Mutter sage ich dir: Sei verflucht auf ewig, Amy, ja, verflucht!«
Sie hörte einen Schrei. Amy, die Unsichtbare, hatte ihn ausgestoßen. In diesem Laut klang all die Wut mit, die sie in ihrem Zustand empfand.
Ihrer Mutter war es egal. Sie hatte einmal ihren Entschluss gefasst und setzte ihn in die Tat um. Sie ging mit steifen Schritten die Stufen hinab, weinend und zitternd, sich mit einer Hand am Lauf des Geländers festhaltend.
Auch wenn Amy eingreifen sollte, sie kümmerte es nicht mehr, denn sie brauchte nur einen Blick nach vorn zu werfen, wo ihr Mann noch immer regungslos vor der Haustür lag.
Sandra erreichte ihn. Sie wusste, dass sie jetzt schlimme Sekunden erwarteten, aber sie musste da durch, und daran würde auch ihre tote Tochter nichts ändern.
Sandra Shannon ging langsam in die Knie. Es war für sie eine schreckliche Bewegung. Den Mund hielt sie geschlossen, die Lippen lagen hart aufeinander.
Da Gerry auf der Seite lag, musste sie den Kopf etwas drehen, um das Gesicht sehen zu können.
Der erste Blick.
Dann der Schrei!
Offene Augen, in denen sich kein Glanz mehr befand. Eine
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