1519 - Das Leichenbild
seiner eigenen Welt lebt und es nicht richtig schafft, dort rauszukommen. Es hat nie Ärger mit ihm gegeben.«
»Hatte er Depressionen?«
»Ich habe nichts davon bemerkt, Mr Sinclair. Ich glaube, dass er unter seiner eigenen Angst leidet. Aber diese Angst hat er nicht vor den anderen Insassen. Es dreht sich alles um seine tote Frau, und es hat meiner Ansicht nach nichts mit Gewissensbissen zu tun. Aber das sollten Sie selbst herausfinden. Ich will Sie nicht schon vorher beeinflussen.«
»Gut«, sagte ich und stand auf. »Das war alles, was ich bisher an Fragen hatte. Jetzt bin ich gespannt darauf, diesen Ebby Jackson kennen zu lernen.«
»Gut, ich lasse Sie hinbringen. Und viel Glück.«
»Danke.«
***
Ein stämmiger Aufseher hatte mich bis zur Tür der Zelle begleitet.
Normalerweise darf ein Fremder das Zuchthaus nicht mit einer Waffe betreten, bei mit hatte man eine Ausnahme von der Regel gemacht, und jetzt wartete ich darauf, dass man mir die Zellentür aufschloss. Der Wärter sagte auch jetzt kein Wort, er schaute nur durch die Guckklappe und drehte dann einen Schlüssel mehrmals im Schloss, sodass er die Tür aufziehen konnte und ich freie Bahn hatte.
Es war eine Einzelzelle, nicht eben üblich in einem Zuchthaus. Mehr lang als breit, mit einer Ecke für die Toilette und einer kleinen Waschgelegenheit. Beides war durch einen grauen Vorhang verdeckt.
Das Fenster gegenüber war den Maßen angepasst. Vor der Außenseite der Scheibe sah ich zwei Gitterstäbe.
Ebby Jackson saß auf dem Bett und starrte vor sich hin. Er schaute auch jetzt nicht hoch. Erst als der Wärter ihn ansprach und sagte: »Besuch für dich, Jackson!«, hob er den Kopf.
Sekundenlang musterten wir uns.
Ebby Jackson war ein Mann mit kurz geschnittenen angegrauten Haaren.
Darunter sah ich ein schmales Gesicht mit blassen Augen und einer kurzen, breiten Nase über den Lippen. Bartstoppeln bedeckten seine Wangen. Seine Statur war kräftig, und man sah ihm an, dass er zupacken konnte, wenn es sein musste.
Er trug graue Häftlingskleidung. Sie bestand aus einer Jacke und einer Hose.
»Besuch?«, fragte er leise.
Diesmal antwortete ich. »Ja, mein Name ist John Sinclair. Ich hörte, dass Sie mich sprechen wollten.«
Es kam mir vor, als würde er einen Moment tief durchatmen. Er hob seine Arme an und legte die Hände vor die Lippen.
»Ich gehe dann mal, bleibe aber in der Nähe«, sagte der Wärter. »Ist okay.«
Erst als der Mann verschwunden war, ließ Ebby Jackson seine Hände wieder sinken. Und er sprach meinen Namen aus, als wäre ich ein Geist.
»Mr Sinclair.«
»Ja, genau.«
»Das kann ich fast nicht glauben. Ich habe nicht mehr mit Ihrem Kommen gerechnet.«
»Ich bin trotzdem hier.«
»Das weiß ich, das sehe ich!« Plötzlich erfasste ihn eine Unruhe, die schon unnatürlich war. Er wusste nicht, wohin mit seinen Armen, er bewegte sie hektisch, bis ich mir den einzigen Stuhl heranholte, der neben dem kleinen Schreibtisch am Fenster stand, wo auch der Fernseher seinen Platz gefunden hatte. Ein schmales Regal aus Metall gab es auch noch und an der Wand ein paar Haken für Klamotten.
Nachdem ich saß, übernahm er wieder das Wort und konnte noch immer nicht begreifen, wer vor ihm saß.
»Dass Sie wirklich gekommen sind, Mr Sinclair, das hätte ich in meinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Und es macht mich über alle Maßen glücklich, denn jetzt wird alles gut.«
»Wenn Sie meinen.«
»Ja. Ja, das meine ich.« Er schlug mit den flachen Händen auf seine Oberschenkel.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr Jackson?«
Tief sog er die Luft durch die Nase ein und nickte bedeutungsschwer.
»Da gibt es ein Problem, ich sage es Ihnen gleich.«
»Ich bin es gewohnt, Probleme zu lösen.«
»Das weiß ich, das habe ich mal in einer Zeitung über Sie gelesen und mir Ihren Namen gemerkt.« Er wechselte das Thema. »Sie wissen, weshalb ich hier sitze?«
»Ja. Wegen Mordes an Ihrer Frau.«
»Genau. Aber ich sehe das anders. Es ist nicht so gewesen, das schwöre ich Ihnen. Nur hat mir der Richter ebenso wenig glauben wollen wie der Staatsanwalt, und das ist ärgerlich.«
»Ich höre zu.«
»Danke.« Er wurde wieder nervös und rutschte unruhig auf seiner Bettkante hin und her. Wenig später hatte er die richtigen Worte gefunden und erzählte mir alles so, wie er es erlebt hatte.
Ich bekam schon sehr bald große Ohren, denn es fiel ziemlich oft der Begriff Teufel oder Hölle. Beidem war seine tote Frau zu Lebzeiten sehr zugetan
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