1537 - Der Schlafwandler
Mann hatte sie davon überzeugt, zu bleiben.
Und sie war geblieben, denn Kate hatte sich der Faszination dieses Mannes nicht entziehen können. Er war einfach wunderbar gewesen. Er erweckte Vertrauen, man konnte ihm alles glauben, und er hatte vom Jenseits gesprochen wie von einer großen Erfüllung.
Nach der dritten Begegnung hatte sie Karel voll vertraut. Und sie hatte sich auch an den Blick seiner Augen gewöhnt, der so anders war als der bei einem normalen Menschen.
Auch jetzt, da sie allein in ihrem Fiat saß, der im Schatten der Kirche stand, konnte sie noch immer nicht begreifen, wie ein Mensch nur so blicken konnte. Aber vielleicht war er etwas Besonderes und sah das, was anderen Menschen verborgen blieb. Nicht grundlos hatte er von der Faszination der anderen Welt gesprochen, kurz Jenseits genannt. Es war, als könnte er dort hineinschauen und all das sehen, was den Menschen nach ihrem Tod begegnete.
Das große unbekannte Wunder. Eine Welt, in der es keine Schmerzen mehr gab. In der sich niemand darum kümmern musste, ob der Krebs alles zerfraß.
Einfach nur wunderbar…
Genau das wollte Kate Ross. Und deshalb saß sie hier an diesem einsamen und dunklen Ort in ihrem Auto und war bereit, dieser Welt endgültig good bye zu sagen.
Die Putney Bridge stand als schweigendes Gebilde da und wirkte wie eine Konstruktion, die vom dunklen Himmel gefallen war, um auf der Erde ihren Platz zu finden.
Es war eine normale Brücke. Dennoch wirkte sie fremd und abstoßend.
Die Autos, die die Brücke passierten, waren nicht zu sehen. Nur das Licht ihrer Scheinwerfer huschte über die Konstruktion hinweg. Mal von links, mal von rechts.
Es war eine kühle Nacht geworden. Allerdings nicht so feucht, als dass sich starke Nebelschwaden hätten bilden können. Ein voller Mond stand am Himmel, und wer zu ihm hoch schaute, der sah ihn klar und scharf umrissen.
Wann kam er?
Kate wartete weiter. Es war nur eine ungefähre Zeit vereinbart worden.
Sie klaubte vom Armaturenbrett die Schachtel mit der letzten Zigarette.
Die hatte sie sich aufbewahrt. Scheiß was auf den Krebs. Es war nicht zu ändern.
Sie rauchte.
Das Seitenfenster war nach unten gedreht, und so konnte sie den Rauchschwaden nachschauen, die ins Freie trieben, und sie dachte daran, dass auch ihr Leben bald wegtreiben würde wie dieser Rauch und ihre Seele in einen anderen Bereich überging.
Er kam noch immer nicht.
Immer wieder schaute sie in die Spiegel, ohne eine Bewegung entdecken zu können. An die Geräusche, die von der Brücke her an ihre Ohren drangen, hatte sie sich inzwischen gewöhnt. So würde sie unterscheiden können, ob sich andere Personen in ihrer Nähe bewegten.
Die Asche schnippte sie aus dem Fenster. Jedes Mal, wenn sie das tat, hatte sie den Eindruck, wieder ein Stück ihrer Lebenszeit zu verlieren.
Schmerzen spürte sie nicht. Die starken Medikamente bekämpften den Krebs zwar nicht, aber sie nahmen ihr zumindest die Schmerzen, und das war wichtig.
Der letzte Zug!
Noch einmal inhalierte sie tief, blies den Rauch wieder aus und schnippte den Stummel durch das Fensters. Er fiel zu Boden und sprühte dort noch mal auf, bis er schließlich verlosch.
So würde auch ihr Leben verlöschen.
Es machte ihr nichts. Sie lächelte sogar, und das Lächeln lag noch auf ihren Lippen, als sie den Schatten sah, der sich dem Fiat von der rechten Seite her näherte.
Die Gestalt war nicht sehr deutlich zu erkennen, aber Kate hatte Karel schon oft genug gesehen, um zu wissen, dass es sich nur um ihn handeln konnte.
Er ging, und doch schien er zu schweben. Kein Laut war zu hören, als er sich dem Wagen näherte und an der Fahrerseite mit der geöffneten Scheibe stehen blieb.
»Ich bin da, Kate!«
»Ja.« Sie nickte.
»Die Zeit ist gekommen!«
Kate wusste, was er damit gemeint hatte. Und plötzlich steckte in ihrem Hals ein dicker Kloß. Bisher war alles nur Theorie gewesen, jetzt aber sah es anders aus. Ihr Tod stand dicht bevor. Es handelte sich nur noch um Minuten, bis der Zeitpunkt gekommen war.
Sie öffnete die Tür. Fast tat es ihr leid, dass sie den alten Fiat zurücklassen musste. Sie hatte sich so sehr an das Fahrzeug gewöhnt. Man würde den Wagen bald finden, und es war ihr jetzt auch egal, was mit dem Fahrzeug geschah. Es konnte ruhig verschrottet werden.
Sie stieg aus.
Neben ihr stand Karel. Er überragte sie beinahe um eine Kopfeslänge, und beim Niederschauen fing er an zu lächeln, als wollte er ihr auf dem letzten Weg noch mal
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