1537 - Der Schlafwandler
drang plötzlich ein Stöhnen, und im nächsten Augenblick schlug er die Augen auf.
Er starrte in die Höhe!
Angel schaute auf ihn nieder.
Beide Blicke trafen sich, und jetzt hätte etwas passieren müssen, aber der Mann blieb liegen, ohne dass etwas geschah. Er zuckte nicht mal. Er schaute nur in die Höhe, und in seinen Augen gab es auch keine Veränderung. Seine Atemzüge hatten sich ebenfalls nicht verändert.
Nach wie vor glichen sie denen eines schlafenden Menschen.
»Hallo, Karel, ich bin es…«
Er gab keine Antwort.
»Kannst du mich hören?«
»Ja.«
»Das ist schön. Wie fühlst du dich?«
»Gut.«
»Nicht erschöpft?«
»Nein.«
»Dann bist du bereit?«
»Ja, das bin ich!«
Jede der Antworten hatte er gegeben, ohne zu überlegen. Und er hatte auch nie die Tonart gewechselt. Seine Stimme war immer gleich geblieben, was Angel natürlich freute.
»Kannst du aufstehen?«
»Ja.«
»Oder soll ich dir helfen?«
»Nein!«
Es war ein Ritual, das zwischen den beiden ablief. Sie fragte, er antwortete. Nur gab er die Antworten nicht wie ein normaler Mensch. Er sprach sie monoton aus, als wäre er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Aber er stemmte sich auch nicht dagegen, denn als Mensch war er es gewohnt, zu gehorchen.
Alles lief glatt. Karel Sorbas setzte sich hin. Nicht ruckartig. Alles vollzog er langsam, als wäre er von einem Band in die Höhe gezogen worden.
Als er auf dem Bett saß, schwang er sich nach links und verließ seine Ruhestätte. Auch das sah normal aus wie bei einem normalen Menschen, aber es war nicht normal, denn Kareis Augen standen zwar offen, aber er machte den Eindruck, als gäbe es nur ihn selbst. Seine Umgebung nahm er nicht wahr. Er konzentrierte sich allein auf sich und auf die Person, die ihn besucht hatte.
Aus dem Mann war das geworden, was man einen Schlafwandler nennt.
Er konnte sich bewegen, doch wer in seine Augen schaute, der musste erkennen, dass er nicht normal war.
»Okay?«
Karel nickte.
»Dann wollen wir gehen.«
»Ja.«
»Es wartet jemand auf uns.«
»Ich weiß. Wo müssen wir hin?«
»Zu einer Brücke.«
»Ich freue mich.«
Es war genug geredet worden. Angel drehte sich von ihm weg und ging zur Tür.
Sie stand so weit offen, dass sie bequem hindurchgehen konnten. Angel übernahm die Führung, und das blieb auch im gesamten Treppenhaus so.
Es gab keinen Lift. Sie mussten die zahlreichen Stufen gehen, und niemand entdeckte sie dabei. Das blieb auch so, und so konnten sie ungesehen das Haus verlassen…
***
Kate Ross war bis in die Nähe der Putney Bridge gefahren. Sie hatte ihren Wagen, einen alten Fiat, neben der Kirche abgestellt. So war es abgemacht worden.
Wie eine Puppe hockte sie hinter dem Lenkrad und schaute hinaus in die Nacht. Kate war diesen Schritt gegangen und wusste, dass sie nicht mehr zurück konnte. Sie hatte Angel versprochen, alles zu tun, was sie wollte.
Besser jetzt als später!
Die sechzigjährige Frau, die sich ihr Leben lang bemüht hatte, etwas Richtiges aus ihrem Leben zu machen, konnte und wollte nicht mehr. Es hing nicht damit zusammen - oder nicht primär -, dass sie von ihrem Mann verlassen worden war, nein, da kam noch etwas ganz anderes hinzu, das viel, viel schlimmer war.
Die Krankheit, der Krebs!
Seit zwei Jahren wusste sie es, und seit zwei Jahren versuchte sie vergeblich, dagegen anzukämpfen. Aber der Krebs war stärker. Man konnte ihn mit einem Tier vergleichen, das sich durchfraß und nichts in ihrem Körper ausließ. Er war gnadenlos, und die Ärzte, die Kate konsultiert hatte, die hatten nur die Schultern angehoben.
Sie wusste Bescheid.
Und jetzt kam es nur darauf an, dass sie einen würdigen Tod fand und nicht dahinsiechte. Quasi durch Zufall - es mochte auch Schicksal gewesen sein - war sie auf einen Artikel in einer Zeitschrift gestoßen, der sie hatte aufmerksam werden lassen.
Von einer humanen Sterbebegleitung war die Rede gewesen.
Genau da war Kate Ross stutzig geworden.
Über die angegebene E-Mail-Adresse hatte sie sich mit der entsprechenden Person in Verbindung gesetzt und auch eine Antwort erhalten.
Angel hatte ihr geantwortet!
Angel wie Engel, und als Engel wollte die Person auch angesprochen werden, denn sie hatte keinen anderen Namen genannt.
Es war zu mehreren Vorbereitungstreffen gekommen, und Kate Ross war enttäuscht gewesen, als nicht diese Angel, sondern ein Mann erschienen war, der sich ihr als Karel vorgestellt hatte. Kate hatte schon flüchten wollen, aber der
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