1537 - Der Schlafwandler
Mut machen.
Sie schlug die Tür zu.
Das Geräusch hörte sich für Kate Ross endgültig an. Sie drehte sich ihrem Begleiter zu, der ihr seinen Arm entgegenhielt, damit sie sich einhaken konnte.
Für einen Moment überspülten sie andere Gedanken. Plötzlich dachte sie daran, dass jetzt die letzte Gelegenheit war, die Beine in die Hand zu nehmen und zu fliehen.
Sie tat es nicht.
Karel gab hier den Ton an. Er nahm sie mit. Beide gingen gemächlich den Weg, der zum Ziel führte. Es sollte ein sicherer Tod sein. Deshalb hatte er die Brücke ausgesucht, von der aus sich Kate in die kalten Fluten der Themse stürzen konnte.
Aber sie dachte auch an die Autos, die darüber hinweg fuhren. Es bestand durchaus das Risiko, dass sie entdeckt wurde. Aber das war nicht ihre Sache. Karel wusste schon, was richtig war und was nicht.
Und so ging sie weiter, ohne ein Wort zu sagen. Das Zittern unterdrückte sie nicht. Auch wenn sie sich am Ziel ihrer Wünsche sah, war sie doch ein Mensch mit Gefühlen, und die Angst war ebenfalls vorhanden. Sie erwischte sie wie ein dicker Schleim, der sich in ihrem Hals festsetzte und auch dort blieb.
Von dem Weg bekam sie kaum etwas mit. Es gab keine Unterschiede in dieser Welt. Ihr kam alles gleich vor, alles wuchs zusammen, und sie hatte das Gefühl, durch einen Tunnel zu schreiten, als sie sich ihrem Ziel näherten.
Dann musste sie anhalten. Kareis weiche Stimme war dicht an ihrem rechten Ohr zu hören.
»Du musst jetzt deine Füße anheben«, erklärte er.
Kate Ross tat es. Sie hätte alles getan, was man von ihr verlangte. Und so schritt sie, gestützt von Karel, eine Steintreppe hoch, die recht versteckt an einer Böschung lag und nur für Menschen geschaffen worden war, die beruflich mit der Brücke zu tun hatten.
Dass sie eine Treppe hoch schritt, bekam die Frau nicht mit. Sie ging langsam, sie wurde weiterhin geführt, und sie hob die Füße automatisch so hoch an, dass sie nicht einmal über eine Kante stolperte und auf den Stufen immer wieder Halt fand.
Karel hielt sie fest. Auch er bewegte sich nicht normal. Noch immer sah er aus wie ein Mensch, der in einen tiefen Schlaf gefallen war und daraus erst erweckt werden musste. Seinen Kopf hatte er angehoben. Er schaute die Reihe der Stufen hoch, um erkennen zu können, wo sie endeten. Von der Brücke her breiteten sich schwache Lichter aus.
Er und die Frau behielten ihren Gehrhythmus bei. Rechts und linke der Stufen breitete sich das winterliche Gras auf dem Boden aus. Struppiges Buschwerk, das allerdings feucht glänzte, sorgte für eine schwache Deckung. Wer hier hoch schritt, der gelangte nicht auf dem direkten Weg auf die Brücke. Die Treppe endete unterhalb der Fahrbahn, wo es einen Steg aus Metall gab, der unter der Brücke verlief, hoch über dem Wasser der Themse, die sich wie ein gewaltiger dunkler Schlangenkörper durch das Flussbett wälzte.
Die Geräusche hatten zugenommen. Autos hinterließen ein Brausen, wenn sie über die Brücke rollten. Der Asphalt schien die Laute weitergeben zu wollen, doch all dies, was normal war, verschwand für Kate Ross in einem akustischen Nebel.
Sie passierten ein letztes Warnschild, worum sie sich nicht kümmerten.
Das Ende der Treppe war bereits in Sicht, sie befanden sich über dem Wasser, und der Schlafwandler führte Kate weiter dem eigentlichen Ziel entgegen.
Und dort wartete jemand.
Kate hatte ihren Blick nach vorn gerichtet. Was links und rechts geschah, interessierte sie nicht. Von irgendwoher warf ein Licht seinen schwachen Schein bis an die Stelle, wo sich die letzten Stufen befanden und wo jemand stand, der auf sie wartete.
Kate sah die Person erst, als sie dicht vor ihr stand und zurückgehalten wurde.
Sie schien wie aus einem Traum zu erwachen und wischte über ihre Augen hinweg, weil sie einen Moment lang an eine Halluzination dachte.
Aber es war keine Halluzination. Es gab die Person, und sie war echt.
Ein offener Mantel ließ einen Blick auf den Körper zu, und Kate sah, wie die Gestalt bekleidet war. Die langen Beine fielen ihr auf. Die Stiefel ebenfalls und der kurze Rock, der schon weit über den Knien endete.
Kate Ross war einigermaßen wieder zu sich gekommen. Sie wusste, dass diese Person keine Täuschung oder Einbildung war. Es gab sie tatsächlich, und sie hatte gewartet.
Erst beim zweiten Hinsehen fiel Kate auf, dass die Frau eine Waffe in der Hand hielt. Ein Beil oder eine Axt mit einem langen Stiel, aber die Waffe war nicht angehoben. Sie berührte
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