1542 - Die Würgehand
Hände nach vorn gestreckt. Es konnten Hindernisse auftauchen, die er vergessen hatte. Dabei brauchte er nicht mit irgendwelchen Bäumen zu rechnen, weil die an den Rändern des Gartens wuchsen.
Der Boden unter ihm war weich. Immer wenn er einen Fuß anhob, klebte der Schmutz an den Sohlen. Die Gedanken hatte er ausgeschaltet. Er ging wie eine Maschine, streifte an niedrigen Gewächsen vorbei oder musste mal einen Strauch oder einen Topf umgehen, in dem Blumen wuchsen.
Und dann war er am Ziel. So plötzlich, dass er davon selbst überrascht wurde. Seine ausgestreckten Hände trafen auf den Widerstand der rauen Hausmauer, und plötzlich konnte er auch wieder etwas sehen.
Zugleich stellte er fest, dass er vom Weg abgekommen war und nicht vor dem breiten Fenster stand, so wie er es sich eigentlich vorgestellt hatte.
Es war links von ihm.
Es war komisch, aber der Nebel war genau hier verschwunden. Dicht vor der Hausmauer hörte er auf, sodass es eine Lücke gab, die ihm eine normale Sicht ermöglichte.
Nur vom Fenster an der Rückseite war er abgekommen. Er stand auf den Steinen der Terrasse, die sich an das Fenster anschloss. Er musste nur nach links gehen, um die Scheibe zu erreichen. Er stellte zudem fest, dass der Nebel auch dort verschwunden war und ihm so eine freie Sicht in das Hausinnere möglich war.
Der Staatsanwalt war derart stark mit sich und seinen Problemen beschäftigt, dass er vergaß, in die Umgebung zu schauen. Nur das, was vor ihm lag, interessierte ihn in diesem Moment, und so tappte er nach links. Seine Hände berührten schon bald das dicke Glas, und in den nächsten Sekunden änderten sich die Dinge radikal.
Er schaute in den Wohnraum.
Er sah zwei Personen.
Seine Frau und den Würger!
Flagstone war so geschockt, dass er nicht mal schreien konnte. Es war ein Bild, das er sich nicht mal in seinen schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können.
Seine Frau kniete auf der Couch. Allerdings so, dass sie über die Rückenlehne hinweg auf das Fenster schauen konnte. Sie hielt die Augen weit geöffnet. Auch ihr Mund war nicht geschlossen, und sie starrte durch die Scheibe genau auf ihn.
Hinter ihr stand Chikaze!
Jetzt hatte der Staatsanwalt den endgültigen Beweis, dass der Würger befreit worden war. Zum Glück machte er im Moment seinem Namen keine Ehre, denn er hatte seine Hände nicht um den Hals seiner Frau gelegt. Er stand nur wie eine Fleisch gewordene Drohung hinter ihr und achtete darauf, was sie tat. Sie schaute nur.
Lydia musste ihn sehen, aber sie reagierte nicht. Weder hob sie die Hand, noch lächelte sie ihm zu, aber er entdeckte jetzt die Panik in ihren Augen.
Lydia litt unter einer schrecklichen Angst, obwohl man ihr momentan nichts tat.
Auf den richtigen Gedanken kam Flagstone nicht. Das konnte er auch nicht, weil er auf dem Kopf keine Augen hatte und auch nicht in die Höhe schaute.
Das tat Lydia.
Und sie sah etwas Schreckliches, das sich aus der dichten Masse hervor schob und langsam nach unten glitt.
Es war eine riesige Würgehand!
***
Es gab einige Personen, die mit dem Fall Chikaze zu tun gehabt hatten.
Nicht nur der Richter und der Staatsanwalt. Man hatte dem Würger einen Pflichtverteidiger zugeteilt, der es nicht geschafft hatte, ihn vor der lebenslangen Freiheitsstrafe zu bewahren. So konnte es durchaus sein, dass auch dieser Mann auf der Liste des Würgers stand.
Wir überlegten, wem wir zuerst einen Besuch abstatten sollten.
Suko war für den Richter, denn er und der Staatsanwalt waren schließlich die wichtigsten Personen bei der Verurteilung gewesen.
»Bist du anderer Meinung, John?«
»Nein.«
»Dann denke ich, dass wir ihn bei Gericht finden. Sein Büro wird offen sein für uns und…«
***
Ich winkte ab. »Bevor wir noch großartig etwas erklären, könnte unsere Freundin Purdy eine Lanze für uns brechen. Wenn sie den Richter vorwarnt, wird er uns wohl kaum mit Misstrauen begegnen, schätze ich mal.«
»Ja, tu das.«
Es blieb beim Vorsatz. Bei mir meldete sich das Handy, und ich war schon leicht überrascht, als ich die Stimme unseres Chefs Sir James Powell hörte.
»Gut, dass ich Sie erreiche, John.«
»Wir sind auf dem Weg zum Richter und…«
»Vergessen Sie das.«
»Wieso?«
»Gordon Flagstone ist wichtiger.«
»Wieso?«
»Ich erkläre es Ihnen, John.«
Nicht nur ich hörte die Erklärung, auch Suko, denn ich hatte den Lautsprecher eingestellt. So erfuhren wir, was der Staatsanwalt unserem Chef mitgeteilt hatte.
Nicht nur ich
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